193 - Kurs in den Untergang
Captain Ibrahim erzählt, aber sie hatte ihn bisher immer nur aus der Ferne zu Gesicht bekommen. Er war unglaublich alt, mindestens fünfzig. Seine Schläfen waren weiß; seine Zähne auch. Seine Augen waren dunkel, was auch für seinen Teint galt. Er hatte kein Gramm Fett am Leib und sah eigentlich genauso aus, wie Zarah sich ihren Vater vorstellte. Manche Gören sagten auch, er sei ein Held und hätte sich mit dem Schießeisen in der Hand gegen einen tyrannischen Despoten aufgelehnt.
»Bist du schon lange an Bord?« Der wache Blick des Kommandanten begutachtete ihr Gesicht.
»Weiß nicht mehr. Corporal Joe-Bob hat mich mitgebracht.«
»Joe-Bob, hm?« Captain Ibrahim hatte keine Ahnung, wen sie meinte, aber er zeigte ihr seine Unwissenheit nicht.
Stattdessen trat er an die Reling und schaute übers Wasser. Der Katamaran hatte die Insel fast erreicht.
Dass er auf Socken hier herumlief, fand Zarah so komisch, dass sie kichern musste. Bei diesem Geräusch drehte Ibrahim sich um. Er trug eine abgewetzte Uniform, und an seinem Gürtel baumelte eine der kleinen Kanonen, mit der die meisten Americanos ausgerüstet waren. Seine Miene wirkte ernst, doch seine Augen lachten.
»Was ist denn so lustig?«
Zarah deutete auf seine Socken.
Captain Ibrahim errötete. »Ist so ’ne Marotte von mir.«
»Glaub ich nicht«, sagte Zarah. »Ich glaub eher, dass Sie geschlafen haben – und im Schlaf aufgestanden sind.«
Captain Ibrahims Blick schien zu stutzen. »Du hast was auf dem Kasten«, sagte er. »Was machst du an Bord?«
Zarah erzählte es ihm.
»Lässt sich nichts Besseres für dich finden?«
Zarah erzählte ihm, dass sie mit ihrem Leben zufrieden war.
»Trotzdem… Wer seltene Kenntnisse und Fähigkeiten hat, sollte sie einsetzen, um den anderen zu helfen.«
Welch hübsche Vorstellung. Doch angesichts der Tatsache, dass Uneigennutz immer ausgenutzt wurde, auch sehr naiv.
Zarah fand Captain Ibrahim aber unglaublich lieb – weil er in seinem hohen Alter noch immer so dachte, wie sie mit elf Jahren gedacht hatte – vor ihrem ersten Armbruch.
Er dachte an andere Menschen, während andere Menschen darüber nachdachten, wie sie ihn abservieren konnten.
Vermutlich würde er sich noch auf dem Totenbett Gedanken machen, wie die Welt ohne ihn weiterging.
Seit der nächtlichen Begegnung mit Lieutenant Swann dachte Zarah nur noch an sich selbst – und ließ sich in bestimmten Gegenden nur noch nachts blicken.
Seit ihrer Entlassung hatte sie keines MP-Mannes Weg mehr gekreuzt. Zum Glück hatte Neola das »Missverständnis« im Zentralen Wachlokal schnell aufgeklärt: Zarah, das dumme Kind, hatte in ihrer Kammer Bordschwalbe gespielt; sie hatte sich vor dem Spiegel aufgetakelt, die Nase in den Korridor geschoben und war in Panik geraten, als ein Freier sie aufgrund ihres Aufzugs Ernst genommen hatte: Nur deswegen war sie in dem Fummel aus dem Fenster gesprungen.
Hoffentlich hatte der Captain nichts davon erfahren.
»Was hältst du davon?«, fragte er.
»Was?« Zarah zuckte zusammen.
»Du bist nicht bei der Sache, was?« Captain Ibrahim beugte sich über die Reling und schaute zu dem Katamaran hinüber, der nun offenbar eine Einfahrt gefunden hatte. »Was hältst du von einer Ausbildung? Vielleicht im medizinischen Bereich?«
Er drehte sich um. »Doktor Zarah… Klingt doch nicht übel, oder?«
Zarah schluckte. Der Traum aller Träume. Leider konnte sie ihn nicht Wirklichkeit werden lassen, denn sie wollte das Schiff bei der nächsten Gelegenheit verlassen. Sie hatte keine Lust, auf dem Präsentierteller zu stehen, wenn Typen wie Lieutenant Swann es sich erlauben durften, Menschen über Bord zu werfen und anderen das gleiche Schicksal anzudrohen.
Ihr Blick wanderte verlegen über Hopetown.
Und dann sah sie am Heck zwei sich duckende Gestalten und ihr fiel etwas ein: »Eine Explosion am Heck, die die MP und die Feuerwehr beschäftigt, während wir die Waffenkammer und die Brücke übernehmen…«
Zarah wich zurück. Ihre rechte Hand fuhr unstet durch die Luft. Sie wollte auf die Gestalten deuten, doch sie waren schon zwischen den Hütten untergetaucht. Und noch etwas fiel ihr ein: Dass Swann und seine Genossen über jemanden gesprochen hatten, der geradezu darauf brannte, dem Captain zu töten.
Sie fuhr herum, öffnete den Mund, wollte gleichzeitig etwas sagen und es für sich behalten. Captain Ibrahim schaute sie verblüfft an. Ihre Erregung entging ihm nicht; aber natürlich konnte er aus ihrem Verhalten
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