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1948 - Roman

1948 - Roman

Titel: 1948 - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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gibt’s keinen Staat, und Jerusalem liegt nicht in dem Staat von Tel Aviv. Und schon pennten wir wieder.
    Früh um vier oder fünf Uhr tauchte Benny Marshak aus dem Nebel auf, und wir fanden, dass quasi zweitausend Jahre und ein paar Tage von ihm abgefallen waren. Er war plötzlich jung, kühn und fröhlich, »sprang über die Berge, hüpfte über die Hügel«, um das Hohelied zu zitieren, sang aus voller Brust, und einen Moment dachte ich sogar, sein alter Schweißgeruch sei verflogen. Er war voll in Fahrt, übersah den zweigeteilten Mann, der auf dem Boden unter den Militärmänteln lag. Benny stand stramm und wieder locker, das Haar zerzaust, und versuchte, die Hatikwa zu singen, brachte aber nur das erez-israelische Krächzen einer Generation heraus, die meinte, je lauter einer schreie, desto mehr sei er im Recht. Feststehend, in die Erde gepflanzt, fast ohne sich vom Fleck zu bewegen, begann er eine ungelenke und schwerfällige Hora zu tanzen, wie die Einwanderer sie aus der Diaspora mitbrachten, eine Art chassidische Hora, tanzte in seiner abgetragenen Khakihose mit der Parabellumpistole am Gürtel, denn auf Gott vertrauten wir damals nur mit der Knarre in der Hand. Das war eine Hora von einem Mann mal zweitausend Jahren und ein paar Tagen, und er sprang und stampfte und schmetterte aus voller Kehle: »Gott wird Galiläa erbauen / Gott wird Galiläa erbauen«, und wir sagten ihm, wir sind hier in Jerusalem, und einer von uns deklamierte plötzlich im Halbschlaf das Lied: »Der Mensch ist zum Sterben geboren/ die Kuh zum Kalben / erklimmst du einen Masten / musst du wieder runtersteigen.« Darauf erging Benny Marshak sich in biblischen Flüchen: Ihr Söhne der Ruchlosigkeit, ihr Söhne verkehrter Widerspenstigkeit, was denkt ihr euch eigentlich? Das ist ein historischer Moment! Der historischste Moment in zweitausend Jahren! Und plötzlich weinte er, und ich stand auf, um mitzumachen, wollte nicht, war müde, aber Benny flehte nun geradezu und packte mich mit seiner in vierzig Kibbuz-Jahren gestählten Hand, und mitten im Nirgendwo, um vier oder fünf Uhr morgens, am Arsch der Welt, neben einer Leiche, die zu stinken anfing, auf einer verpissten befestigten Stellung, die hin und wieder beschossen wurde, tanzten ein paar junge Dussel und schrien »Gott wird Galiläa erbauen«, in Jerusalem, das noch nie was von Galiläa gesehen hatte, und skandierten »hebräischer Staat, hebräischer Staat«, und mitten im Tanzen fing ich an zu zittern, mir fielen die Augen zu, ich steckte mir Streichhölzer zwischen Brauen und Wangen, dämmerte aber beim Tanzen ein, und Benny rannte weg, um andere Kumpels zu benachrichtigen. Später trugen wir den durchtrennten Mann nach Kirjat Anavim, übergaben ihn den älteren Genossen vom Kibbuz, die für die Begräbnisse zuständig waren, und schliefen ein bisschen. Dann wurden wir geweckt und in ein anderes Gefecht geschickt. Warum, wussten wir wieder nicht, und das ist das Komischste, was mir in jenem Krieg passiert ist: Dass ich einen Staat gegründet habe, während ich schlief oder neben einem namenlosen Kameraden, den es in zwei Teile zerrissen hatte, Hora tanzte.

2
    Ein paar Nächte später gingen wir über die Berge und sangen »Wir gehen wie Tote«, dessen Text, soviel ich weiß, nicht von unserem Nationaldichter Chaim Nachman Bialik stammt, und sangen auch das Lied »Wenn die Mädels Flaschen sind / sind die Jungen Korken / bumsen / bumsen«, das nicht sein gleichfalls berühmter Kollege Schaul Tschernichowski verbrochen hat. Und die Stadt Jerusalem war leer, Granaten fielen auf die Ewige Stadt, die Einwohner verkrochen sich hungrig und durstig in den steinernen Häusern. Andauernd knallte es, und Menschen starben auf offener Straße und in Häusern und Schulen oder mitten beim Absingen blödsinniger Lieder. Nach einem gottverlassenen Gefecht, wo, weiß ich nicht mehr, erfuhr ich, dass fünf der sieben Kameraden, die mit Benny Marshak und mir auf der lächerlichen Fete in der befestigten Stellung getanzt hatten, tot waren und man die beiden Überlebenden einem anderen Bataillon zugeteilt hatte. Ich war also allein übrig von dem ganzen Trupp, der seit dem Gefecht im Kibbuz Hulda gemeinsam gekämpft hatte. Ich saß mit meinem Bündel in Kirjat Anavim auf dem Rasen, wollte Wasser trinken, aber es gab keins. Einer, der am nächsten Tag sterben sollte, kam an und fragte, wo die Kumpels seien. Ich antwortete ihm, fünf seien tot und zwei zu David »Dado« Elazars Bataillon

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