195 - Verloren im Outback
dem niemand wusste, was er gewesen war; Unterführungen, durch die man von einer Talseite auf die andere wechseln konnte; Metallbrücken, die meist verrostet und eingestürzt waren; Hunderte von Treppen, die zum Erklimmen der Höhen dienten; und Steintürme auf den beiden Hügeln, die alten Mythen zufolge die Hohepriester des örtlichen Brauwesens hatten bauen lassen, um der Gottheit Hop’fen näher zu sein.
Das phantastischste Bauwerk im Tal war jedoch fraglos die Swebibaan, die am Fluss immer wieder ins Blickfeld rückte.
»Früher«, sagte Hella, als sie auf einem mit Steinplatten ausgelegten Platz standen, der an drei Seiten von hohen Ruinen und Schutthügeln umgeben war, »hingen an dem Gerüst Kutschen. Sie wurden von einer Kraft angetrieben, die inzwischen ausgestorben ist. Die Kutschen fuhren durchs ganze Tal, und man konnte sich von ihnen tragen lassen. In gewissen Abständen gab es so genannte Baanhoife. Dort konnte man zusteigen.«
Aruula musterte das rostige Gerüst bewundernd und stellte sich eine der Kutschen vor. Von dort oben aus hatte man bestimmte eine tolle Aussicht über diese gespenstische Landschaft. Vielleicht konnte man von da oben auch nach dem verschwundenen Knaben Grimolf Ausschau halten.
»Um Wudans willen!«, keuchte Hella, als Aruula diesen Vorschlag machte. »Du willst dort rauf klettern? Das ist viel zu gefährlich! Du wirst dir den Hals brechen oder von Taratzen gefressen werden!«
»Vielleicht suchen wir uns einen Baanhoif.« Aruula schaute sich um. »Ist denn keiner in der Nähe?«
»Doch.« Hella nickte. »Komm mit.« Sie huschte davon, und Aruula schloss sich ihr an. Sie überquerten den großen Platz, wichen einer Ammoniakwolke aus, die aus einem Loch im Boden quoll, und scheuchten nackte Ratzen auf, die so weißleibig und blauadrig waren, dass allein ihr Anblick Aruula würgen ließ – nicht zuletzt auch, weil das Stück Fleisch, um dass sie sich rauften, einer menschlichen Hand glich.
Sie schlugen sich durch von Pilzen überwucherte Hinterhöfe, wurden von wahnsinnig gackernden Tieren durch ein Fenster mit Schleim bespritzt und gelangten schließlich wieder an den Fluss.
Vor ihnen ragte ein Baanhoif auf. Er sah wie ein Haus auf Stelzen aus und war ziemlich heruntergekommen. Eine wurmstichige Treppe führte nach oben, doch sie wirkte so zerbrechlich, dass Aruula eine Probe aufs Exempel machte: Sie warf einen Felsklumpen auf die siebte Stufe. Die Treppe krachte zusammen und entwickelte eine Staubwolke, die die Frauen in die Flucht schlug.
Nun war es aber traditionell so, dass sich gleich vor oder hinter einem Baanhoif eine Brücke befand, die zur anderen Flussseite führte. Diese überquerten sie. Auch auf der Gegenseite des Stelzenhauses gab es eine Treppe. Sie war viel besser in Schuss – als hätte sie noch keine zehn Winter hinter sich.
»Wie sonderbar.« Hella schaute sich argwöhnisch um.
Irgendwo hinter ihnen zog sich ein dunkelrotes Stielauge in den Erdboden zurück – als wolle es nicht gesehen werden.
»Wenn die Swebibaan ein Relikt der Alten Zeit ist – wieso sehen diese Treppenstufen dann so aus, als hätte man sie erst vor ein paar Jahren gezimmert?«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Hella leise. »Vermutlich war jemand der Meinung, die alte Treppe müsse ausgebessert werden.«
»Ja, aber wer?« Aruula wagte sich ein paar Stufen hinauf und reckte den Hals.
Da war eine größere Plattform, die man überqueren musste.
Dann kamen – auf jeder Flussseite eine – zwei weitere Treppen, die nach oben führten – zu dem Gerüst, an dem früher die Kutschen gehangen hatten…
»Jemand, der dort oben haust?« Aruula duckte sich und packte ihr Schwert fester.
Da Hella nicht antwortete, drehte sie sich herum. Sie hätte es lieber nicht tun sollen.
***
Mitternacht. Über dem Outback stand ein leuchtender Vollmond, holte Büsche und Bäume aus der Dunkelheit, hauchte ihnen scheinbares Leben ein. Westwind ließ sie wie Schattenkrieger Richtung Geisterstadt schwanken. Dort spannte sich ein Schriftzug aus geflochtenen Zweigen über die Straße. Das Mondlicht fiel hindurch und schrieb einen Namen in den Staub: Hollow Creek.
Am Straßenrand, auf dem Gatter, hockten die schlafenden Kukka’bus. Daa’tan hatte sich im Gras ausgestreckt; satt und erschöpft von den Anstrengungen des Tages. Nuntimor lag neben ihm. Seine Augäpfel rollten unter den geschlossenen Lidern. Manchmal zuckte er im Traum.
Die Hand des Neunzehnjährigen ruhte an einem Pfahl, oder
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