1954 - Flugziel Chearth
„Und eine Wiederholung mit weiterer Verlangsamung des Ablaufs." .Was ihm eben nur unbewusst aufgefallen war, wurde deutlicher: Die Mikrotechnikerin verschwand keineswegs abrupt, vielmehr schien sich eine undurchsichtige Wand über ihren Körper zu schieben. „Vincent Garron liegt nach wie vor im Koma?" fragte Atlan spontan. Ist das ein Hindernis? bemerkte der Extrasinn trocken. Oder willst du erst reagieren, sobald weitere Personen verschwunden sind?
Eigentlich wirkte er unscheinbar, zartgliedrig und irgendwie zerbrechlich. Das struppige braune Haar stand wirr vom Schädel ab, als folge es eigenen Schwerkraftgesetzen. Auch die von Verbrennungen stammenden Narben im Gesicht wirkten auf ihre Weise eigenwillig - er hatte sich geweigert, sie biokosmetisch beseitigen zu lassen. Wer diesen Mann zum erstenmal sah, mochte meinen, das Klischee eines zerstreuten Wissenschaftlers vor sich zu haben. Die Sicherheitsvorkehrungen redeten jedoch eine völlig andere Sprache. Zutritt zu dem Sicherheitstrakt im Herzen des Zentralmoduls MERLIN war nur nach vorheriger Überprüfung der Individualimpulse möglich. Kampfroboter sicherten die Schotten, außerdem waren Paratronprojektoren aufgeboten, den Innenbereich jederzeit mit einem undurchdringlichen Schirmfeld hermetisch abzuriegeln.
Wieviel dieser Maßnahmen ist Selbstzweck und wieviel wirklich Notwendigkeit? wisperte Atlans Extrasinn. Versuche, dich in die Situation der Mannschaft hineinzudenken. Jeder weiß, wie viele Tote Vincent Garron auf dem Gewissen hat und wie qualvoll teilweise seine Opfer gestorben sind.
Deshalb halten wir ihn unter Kontrolle. Sag das all denen, die in den zusätzlichen Beibooten Dienst tun. Sie wissen, dass der Todesmutant in ihrer Nähe ist unterschwellig fürchten sie ihn. Aber die Sicherheitsvorkehrungen sprechen allen Beschwichtigungsversuchen hohn.
Atlan antwortete nicht. Beim Thema Vincent Garron polarisierten sich die Gemüter. Kaum jemand akzeptierte die Gründe, weshalb der Todesmutant an Bord war. Einige radikale Stimmen behaupteten, das gesamte Unternehmen werde durch Garrons Anwesenheit gefährdet. Die Aussicht, ihn von seinen Wahnvorstellungen zu heilen, sei dagegen verschwindend gering. Mit Skepsis betrachteten viele die Beteuerungen der Schiffsführung, dass von Garron keine Bedrohung mehr ausgehe. Selbst Atlans Worte wurden teilweise auf die Goldwaage gelegt. „Er schläft", sagte Tuyula Azyk, ohne von Garrons Seite zu weichen. Mit den beiden hinteren Augen blickte sie Atlan und der Kartanin entgegen. „Mir erscheint dieser Ort zeitlos, der einzige an Bord, der fernab der üblichen Hektik ist. Ich ..." Mit beiden Händen massierte sie den Rand ihres tellerförmigen Kopfes eine Geste, in der sich Unsicherheit, aber auch kindliche Neugierde ausdrückte. „Ich empfinde manches im Nachhinein wie einen Traum. Vincent hat mir nie wirklich weh tun wollen."
Was die junge Blue „schlafen" nannte, war das Koma, in das der T9desmutant sich geflüchtet hatte. Bislang war es nicht gelungen, ihn daraus zu wecken. Atlan fragte sich, wie lange Tuyula an der Seite dieses Mannes verweilen würde. Vielleicht bereute sie längst, dass sie sich für ihn einsetzte - ihre Psyche war schwer durchschaubar. Tuyula hasste ihre Mutter, die ihren Verkauf geduldet hatte, ihre verpfuschte Kindheit, aber sie hatte sich auch geweigert, ihre körperliche Veränderung hin zur Frau zu akzeptieren. Was fesselte Tuyula wirklich an den Todesmutanten? Am ehesten wohl die gemeinsame parapsychische Begabung, die eine größere Seelenverwandtschaft bewirkte als das unterschiedliche körperliche Aussehen. Vielleicht die Tatsache, dass er das erste Wesen war, das sie tatsächlich brauchte. Dr. Julio Mangana, der Leiter des Medocenters der MERLIN, war kurz vor Atlan und Dao-Lin-H'ay im Sicherheitstrakt eingetroffen und hatte sich in die Analyse der Aufzeichnungen vergraben. Die Körperfunktionen des Mutanten wurden konstant überwacht, eine Verschlechterung seines Zustands ebenso wie das Aufwachen aus dem Koma hätten sofort Alarm ausgelöst. „Garrons Zustand ist unverändert, Atlan. Gelegentliche Rapid Eye Movements deuten vielleicht darauf hin, dass er Tuyulas Nähe wahrnimmt, und genau deswegen ist ihre Anwesenheit aus medizinischer Sicht sogar erwünscht. Doch zum Aufwachen aus dem Koma gehört mehr. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Der Patient will nicht aufwachen. In seinem Zustand fühlt er sich sicher - vor sich selbst und vor seiner
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