1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
und war nur bei der Tür unterbrochen. Am Zellenende, der Tür gegenüber, war eine Klosettschüssel ohne hölzernen Sitz angebracht. Ein Televisor war an jeder der vier Wände vorhanden.
Ein dumpfer Schmerz in der Magengegend quälte ihn. Er hatte sich von dem Augenblick an bemerkbar gemacht, als man ihn in den geschlossenen Gefängniswagen gesteckt und weggefahren hatte. Aber er war auch hungrig, er fühlte einen nagenden, krankhaften Hunger. Es mochte vierundzwanzig Stunden her sein, seit er zuletzt etwas gegessen hatte – oder auch sechsunddreißig. Er wußte noch immer nicht und würde es vermutlich nie wissen, ob es Morgen oder Abend gewesen war, als man ihn festnahm. Seit seiner Verhaftung hatte er nichts mehr zu essen bekommen.
Er saß so unbeweglich da, wie er konnte, mit über dem Knie verschränkten Händen auf der schmalen Bank. Er hatte bereits gelernt, still dazusitzen. Machte man unerwartete Bewegungen, so wurde man durch den Televisor angeschrien. Aber sein Verlangen nach etwas Eßbarem wurde immer heftiger. Vor allem gelüstete ihn nach einem Stück Brot. Er glaubte sich zu erinnern, daß in der Tasche seines Trainingsanzugs ein paar Brotkrumen waren. Er kam auf diesen Gedanken, weil ihn von Zeit zu Zeit etwas am Bein zu kitzeln schien – daß noch ein anständiges Stück Rinde darin steckte. Schließlich war sein Verlangen, sich davon zu überzeugen, stärker als seine Furcht. Er schob seine Hand in die Tasche.
»Smith!« schrie eine Stimme aus dem Televisor. »6079 Smith W.! In der Zelle Hände aus der Tasche!«
Er saß wieder still da, seine Hände über dem Knie verschränkt. Bevor man ihn hierher gebracht hatte, war er an einen anderen Ort gebracht worden, der ein gewöhnliches Gefängnis oder ein von den Polizeistreifen benutzter vorübergehender Gewahrsam gewesen sein mußte. Er wußte nicht, wie lange er dort gewesen war; jedenfalls einige Stunden; ohne Uhr und ohne Tageslicht war es schwer, die Zeit abzuschätzen. Es war ein lärmender, übelriechender Ort gewesen. Man hatte ihn in eine Zelle gesteckt, die der ähnelte, in der er sich jetzt befand, aber grauenhaft schmutzig und ständig mit zehn bis fünfzehn Menschen belegt war. Die Mehrzahl davon waren gemeine Verbrecher, aber es gab ein paar politische Gefangene unter ihnen. Er hatte still gegen die Wand gelehnt dagesessen, zwischen schmutzigen Leibern herumgestoßen, zu sehr mit seiner Angst und seinen Leibschmerzen beschäftigt, um großes Interesse an seiner Umgebung zu nehmen. Aber er gewahrte doch den erstaunlichen Unterschied im Verhalten gegenüber den Partei-Gefangenen und den anderen. Die Partei-Gefangenen waren immer stumm und voll Furcht, aber die gewöhnlichen Gefangenen schienen nichts und niemanden zu scheuen. Sie schrien dem Wachpersonal Beschimpfungen zu. wehrten sich wütend, wenn ihre Sachen beschlagnahmt wurden, schrieben unflätige Worte auf den Fußboden, aßen eingeschmuggelte Nahrungsmittel, die sie aus geheimnisvollen Verstecken ihrer Kleidung hervorzogen, und schrien sogar den Televisor nieder, wenn er die Ordnung wiederherzustellen versuchte. Andererseits schienen manche von ihnen auf gutem Fuß mit den Wachen zu stehen, nannten sie bei Spitznamen und versuchten Zigaretten durch das Guckloch in der Tür zu schieben. Die Wachen wiederum behandelten die gewöhnlichen Gefangenen mit einer gewissen Nachsicht, auch wenn sie derb mit ihnen umspringen mußten. Es wurde viel von den Zwangsarbeitslagern geredet, und die meisten Gefangenen erwarteten, dorthin verschickt zu werden. Es war »erträglich« in diesen Lagern, reimte er sich zusammen, solange man gute Beziehungen hatte und den ganzen Rummel kannte. Es herrschte dort Bestechung, Bevorzugung und organisiertes Verbrechertum aller Art, es gab Homosexualität und Prostitution, es gab sogar aus Kartoffeln heimlich gebrannten Schnaps. Die Vertrauensposten bekamen nur die gewöhnlichen Verbrecher, besonders Gewaltverbrecher und Mörder, die eine Art Aristokratie bildeten. Alle schmutzigen Arbeiten wurden von den Politischen verrichtet.
Es war ein dauerndes Kommen und Gehen von Gefangenen aller Art: von Rauschgifthändlern, Dieben, Straßenräubern, Schwarzhändlern, Trunkenbolden, Prostituierten. Manche von den Betrunkenen waren so außer Rand und Band, daß die anderen Gefangenen sich zusammentun mußten, um sie zu überwältigen.
Ein riesiges Wrack von einem Weib, etwa sechzigjährig, mit großen Hängebrüsten und dicken, aufgerollten weißen Haarlocken, die
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