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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Schrei. Ein Tritt von dem Stiefel eines Wachmannes hatte die Finger seiner einen Hand gebrochen. Sie stellten ihn auf die Beine.
    »Zimmer 101«, sagte der Offizier.
    Der Mann wurde hinausgeführt. Er ging schwankend, sein Kopf war vornüber gesunken, so leckte er an seiner zermalmten Hand; sein Kampfgeist war gebrochen.
    Eine lange Zeit verging. Wenn es Mitternacht gewesen war, als der Mann mit dem Totenschädelgesicht abgeführt wurde, dann war es jetzt Morgen. War es aber Morgen gewesen, dann war es jetzt Nachmittag.
    Winston war allein und war seit Stunden allein gewesen. Es war eine solche Qual, auf der schmalen Bank zu sitzen, daß er oft aufstand und umherging, ohne aus dem Televisor angeschrien zu werden. Das Stück Brot lag noch immer dort, wo der kinnlose Mann es hingeworfen hatte. Anfangs kostete es eine harte Anstrengung, nicht darauf hinzublicken, aber nun wich der Hunger dem Durst. Sein Mund war klebrig, und er empfand einen schlechten Geschmack. Das summende Geräusch und das unveränderte weiße Licht verursachten eine Art von Ohnmacht, ein Gefühl der Leere in seinem Kopf. Er stand auf, weil der Schmerz in seinen Knochen nicht mehr erträglich war, um sich dann sofort wieder hinzusetzen, weil er zu schwindlig war, um sicher auf den Füßen zu stehen. Sobald er sich ein wenig in der Gewalt hatte, befiel ihn wieder die Angst. Manchmal dachte er mit einer schwachen Hoffnung an O'Brien und die Rasierklinge. Es war denkbar, daß die Rasierklinge in seinem Essen versteckt kam, wenn er überhaupt jemals etwas zu essen erhielt.
    Unbestimmter dachte er an Julia. Irgendwo litt sie, vielleicht noch schlimmer als er. Sie schrie vielleicht in diesem Augenblick vor Schmerz. Er dachte: »Wenn ich Julia dadurch retten könnte, daß ich meine eigene Qual verdoppele, würde ich es tun? Ja, ich täte es.« Aber das war nur ein verstandesmäßiger Entschluß, den er in dem Bewußtsein faßte, daß er es tun sollte. Er empfand ihn nicht. Hier, an diesem Ort, konnte man nichts empfinden, außer Qual und dem Vorauswissen der Qual. War es außerdem möglich, aus welchem Grund auch immer zu wünschen, der eigene Schmerz möge sich vergrößern, wenn man ihn auch wirklich erlitt? Aber diese Frage war noch nicht beantwortbar.
    Wieder näherten sich Stiefel. Die Tür öffnete sich. O'Brien kam herein.
    Winston starrte auf seine Füße. Der Schreck des Anblicks ließ ihn alle Vorsicht außer acht lassen. Zum erstenmal seit vielen Jahren vergaß er, daß ein Televisor da war.
    »Sie haben auch Sie erwischt!« rief er.
    »Sie erwischten mich schon vor geraumer Zeit«, sagte O'Brien mit einer sanften, fast bedauernden Ironie.
    Er trat beiseite, hinter ihm trat ein breitbrüstiger Wachmann mit einem langen schwarzen Gummiknüppel in der Hand hervor.
    Ja, erkannte er jetzt, er hatte es immer gewußt. Aber jetzt war keine Zeit, daran zu denken. Alles, wofür er Augen hatte, war der Gummiknüppel in der Hand des Wachsoldaten. Er konnte überallhin treffen: auf den Scheitel, die Ohrspitze, den Oberarm, den Ellbogen – Den Ellbogen! Er war, fast gelähmt, auf die Knie gesunken, während er mit seiner anderen Hand den getroffenen Ellbogen umklammerte. Alles war zu gelbem Licht explodiert. Unfaßlich, einfach unfaßlich, daß ein Schlag solchen Schmerz verursachen konnte! Es wurde lichter, und er konnte die beiden anderen sehen, wie sie auf ihn herabblickten. Der Wachmann lachte über seine Verkrümmungen. Eine Frage jedenfalls war beantwortet. Nie, aus keinem Grunde der Welt, konnte man eine Vergrößerung des Schmerzes wünschen.
    Von dem Schmerz konnte man nur eines hoffen: nämlich, daß er aufhörte. Nichts auf der Welt war so schlimm wie körperlicher Schmerz. Angesichts des Schmerzes gibt es keine Helden . . . gibt es keine Helden . . . dachte er wieder und immer wieder, während er sich auf dem Boden wand und vergeblich seinen kraftlos herunterbaumelnden Arm streichelte.

Zweites Kapitel
    Er lag auf etwas, das sich wie ein Feldbett anfühlte, außer daß es höher vom Boden entfernt und daß er auf irgendeine Weise darauf gefesselt war, so daß er sich nicht rühren konnte. Licht, das stärker als gewöhnlich schien, fiel auf sein Gesicht. O'Brien stand neben ihm und blickte gespannt auf ihn herab. An der anderen Seite stand ein Mann in einem weißen Mantel, eine Injektionsspritze in der Hand.
    Sogar nachdem er die Augen geöffnet hatte, nahm er seine Umgebung nur allmählich in sich auf. Er hatte den Eindruck, in dieses Zimmer

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