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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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den Schmerz. Sie schlugen ihn wohl ins Gesicht, verdrehten ihm die Ohren, rissen ihn an den Haaren, ließen ihn auf einem Bein stehen, erlaubten ihm nicht, Wasser zu lassen, hielten ihm blendendes Licht vor das Gesicht, bis ihm die Tränen aus den Augen liefen; aber alles das diente nur dazu, ihn zu demütigen und ihm die Kraft zum Widerstand und zu vernünftigem Denken zu nehmen. Ihre wirkliche Waffe war das unerbittliche Verhör, das weiter und immer weiter ging, Stunde um Stunde, das ihn aus dem Konzept brachte, ihm Fallen stellte, alle seine Worte verdrehte, ihn bei jedem Schritt der Lügen und des Widerspruchs schuldig erklärte, bis er aus Beschämung sowie aus nervöser Erschöpfung zu weinen anfing. Manchmal weinte er ein halbes Dutzend Mal im Verlauf einer einzigen Vernehmung. Die meiste Zeit schrien sie ihn mit Schimpfnamen an und drohten ihm bei jedem Zögern, ihn wieder den Wachen auszuliefern. Manchmal aber änderten sie plötzlich ihre Tonart, nannten ihn Genosse, ermahnten ihn im Namen von Engsoz und dem Großen Bruder und fragten ihn kummervoll, ob er denn sogar jetzt noch nicht genügend Treue der Partei gegenüber aufbringen könnte, um zu wünschen, das getane Unrecht wieder gutzumachen. Wenn seine Nerven nach stundenlangem Verhör in Fetzen waren, dann konnte ihn sogar diese Mahnung zu triefenden Tränen bringen. Am Schluß erledigten ihn die quälenden Stimmen gründlicher als die Stiefel und Fäuste der Wachen. Er wurde nur noch zu einem Mund, der etwas stammelte, und einer Hand, die unterschrieb, was man von ihm wollte. Er hatte nur noch einen Wunsch, nämlich herauszufinden, was sie wollten, das er gestehen sollte, um es dann rasch zu gestehen, ehe die Quälerei von neuem anfing. Er bekannte sich schuldig der Ermordung führender Parteimitglieder, der Verbreitung aufrührerischer Flugschriften, der Unterschlagung öffentlicher Mittel, des Verrats militärischer Geheimnisse und der Sabotage aller Art. Er bekannte, bereits im Jahre 1968 ein von der Regierung Ostasiens bezahlter Spion gewesen zu sein. Er bekannte sich als einen religiös Gläubigen, einen Bewunderer des Kapitalismus und eines sexuell Pervertierten. Er bekannte, seine Frau ermordet zu haben, obwohl er wußte – und seine Befrager wissen mußten –, daß seine Frau noch am Leben war. Er bekannte, seit Jahren in persönlicher Verbindung mit Goldstein gestanden zu haben und das Mitglied einer Untergrundorganisation gewesen zu sein, der fast jeder Mensch, den er nur je gekannt hatte, angehört hatte. Es war leichter, alles zu gestehen und Gott und die Welt mit hineinzuverwickeln. Außerdem war in gewisser Weise alles wahr. Es war wahr, daß er ein Feind der Partei gewesen war, und in den Augen der Partei bestand kein Unterschied zwischen Gedanken und Taten.
    Es gab auch noch andere Erinnerungen. Sie hoben sich in seinem Denken unzusammenhängend ab, wie rings von Dunkelheit umgebene Bilder.
    Er befand sich in einer Zelle, die entweder dunkel oder hell gewesen sein mochte, denn er konnte nichts als nur ein paar Augen unterscheiden. In seiner Nähe tickte langsam und regelmäßig ein Apparat. Die Augen wurden größer und leuchtender. Plötzlich schwebte er aus seinem Sitz empor, tauchte in die Augen und wurde aufgesogen.
    Er war unter blendendem Licht auf einen von Skalenscheiben umgebenen Stuhl festgeschnallt. Ein Mann in weißem Mantel las die Skalen ab. Draußen hörte man das Getrampel schwerer Stiefel. Die Tür öffnete sich klirrend. Der Offizier mit dem Wachsmaskengesicht marschierte, von zwei Wachen gefolgt, herein.
    »Zimmer 101«, sagte der Offizier.
    Der Mann im weißen Mantel drehte sich nicht um. Er sah auch Winston nicht an; er blickte nur auf die Skalen.
    Er wälzte sich einen riesigen Gang von einem Kilometer Breite hinunter, der von strahlendem, goldenem Licht erfüllt war, brüllend vor Lachen und mit Aufwand seiner ganzen Stimme Geständnisse hinausschreiend. Er gestand alles, sogar die Dinge, die er unter der Folter zu verschweigen fertiggebracht hatte. Er berichtete seine ganze Lebensgeschichte einer Zuhörerschaft, die sie bereits kannte. Mit ihm wälzten sich die Wachen, die anderen Verhörenden, die Männer in weißen Mänteln, O'Brien, Julia, Herr Charrington, alle zusammen vor Lachen brüllend den Gang hinunter. Etwas Schreckliches, das im Schoß der Zukunft gelegen hatte, war irgendwie übersprungen worden und nicht Wirklichkeit geworden. Alles war schön und gut, es gab keinen Schmerz mehr, die letzte

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