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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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vielleicht drei Tage her sein.« Seine Blicke huschten über die Wände, so als hoffe er halbwegs, irgendwo ein Fenster zu finden. »Hier an diesem Ort besteht kein Unterschied zwischen Tag und Nacht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man die Zeit berechnen könnte.«
    Ein paar Minuten unterhielten sie sich oberflächlich, dann, ohne offensichtlichen Grund, gebot ihnen ein Befehl aus dem Televisor Schweigen. Winston saß still da, mit übereinandergelegten Händen. Ampleforth, der zu groß war, um bequem auf der schmalen Bank sitzen zu können, rutschte zappelig von einer Seite auf die andere, verschränkte seine langen Hände erst um das eine Knie, dann um das andere. Der Televisor raunzte ihn an, sich ruhig zu verhalten. Die Zeit verstrich. Zwanzig Minuten, eine Stunde – es war schwer zu beurteilen. Wieder erscholl draußen ein Geräusch von Schritten. Winstons Eingeweide zogen sich zusammen. Bald, sehr bald, vielleicht in fünf Minuten, vielleicht jetzt, würde das Stiefelgetrampel bedeuten, daß die Reihe an ihn gekommen war.
    Die Tür öffnete sich. Der junge Offizier mit dem kalten Gesicht trat in die Zelle. Mit einer kurzen Handbewegung deutete er auf Ampleforth.
    »Zimmer 101«, sagte er.
    Ampleforth schritt schwerfällig zwischen den Wachen hinaus, sein Gesicht war ein wenig beunruhigt, jedoch ohne zu begreifen.
    Eine scheinbar lange Zeit verstrich. Der Schmerz in Winstons Bauch war wieder erwacht. Sein Denken kreiste rund und rund um dieselbe Bahn, wie eine Kugel, die immer wieder in die gleiche Reihe von Löchern fällt. Er kannte nur sechs Gedanken: Seine Leibschmerzen; ein Stück Brot; das Blut und das Wehgeschrei; O'Brien; Julia; die Rasierklinge. Seine Eingeweide krampften sich erneut zusammen; die schweren Stiefel näherten sich. Als die Tür aufging, wehte der von ihr hervorgerufene Luftzug einen durchdringenden kalten Schweißgeruch herein. Parsons trat in die Zelle.
    Er hatte eine kurze Khakihose und ein Sporthemd an.
    Diesmal war Winston so verblüfft, daß er alle Vorsicht vergaß.
    » Sie hier!« sagte er.
    Parsons warf Winston einen Blick zu, aus dem weder Teilnahme noch Erstaunen, sondern nur Jammer sprach. Er begann mit ruckhaften Bewegungen hin und her zu gehen, offensichtlich unfähig, sich ruhig zu verhalten. Jedesmal, wenn er seine plumpen Knie durchdrückte, sah man, daß sie zitterten. Seine Augen hatten einen aufgerissenen, starren Blick, so als könnte er sich nicht enthalten, nach etwas in der näheren Umgebung zu stieren.
    »Weswegen sind Sie hier?« fragte Winston.
    »Gedankenverbrechen!« sagte Parsons, fast unter Schluchzen. Der Ton seiner Stimme drückte gleichzeitig ein vollständiges Eingeständnis seiner Schuld als auch eine Art ungläubigen Entsetzens aus, daß ein solches Wort überhaupt auf ihn Anwendung finden konnte. Er blieb vor Winston stehen und begann sich eifrig bei ihm zu beschweren: »Sie glauben doch nicht, daß sie mich erschießen werden, nicht wahr, alter Junge? Sie erschießen einen doch nicht, wenn man nicht wirklich etwas verbrochen hat – sondern nur in Gedanken, wofür man nichts kann? Ich weiß, daß sie einem ein anständiges Verhör gewähren. Ach, darin habe ich volles Vertrauen zu ihnen! Sie werden ja meinen Personalakt kennen. Sie wissen, was für ein Mensch ich war. Auf meine Art kein schlechter Kerl. Kein sehr großes Licht freilich, aber beflissen. Ich habe mein Bestes für die Partei zu tun versucht, das hab' ich doch, nicht wahr? Ich werde mit fünf Jahren davonkommen, glauben Sie nicht? Oder auch mit zehn Jahren? Ein Mann wie ich könnte sich in einem Arbeitslager sehr nützlich machen. Sie werden mich doch nicht erschießen, nur weil ich einmal entgleist bin?«
    »Sind Sie schuldig?« fragte Winston.
    »Natürlich bin ich schuldig!« schrie Parsons mit einem kriecherischen Seitenblick nach dem Televisor.
    »Sie glauben doch nicht, daß die Partei einen unschuldigen Menschen verhaften würde?« Sein Froschgesicht wurde ruhiger und nahm sogar einen ein wenig scheinheiligen Ausdruck an. »Gedankenverbrechen ist etwas Schreckliches, alter Junge«, sagte er salbungsvoll. »Es ist etwas Heimtückisches. Es kann einen überkommen, sogar ohne daß man es weiß. Wissen Sie, wie es mich überkommen hat? Im Schlaf! Ja, das ist Tatsache. Da war ich, plagte mich, versuchte das meinige zu leisten – und hatte keine Ahnung, daß ich überhaupt je etwas Böses im Kopf hatte. Und dann fing ich an, im Schlaf zu sprechen. Wissen Sie, was man mich sagen

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