1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
verspürt, den Gemeinschaftsabend zu versäumen. Beim Anblick der drei Worte »Ich liebe Sie« war der Wunsch, am Leben zu bleiben, neu in ihm erwacht, und plötzlich schien es töricht, in Kleinigkeiten sich einer Gefahr auszusetzen. Erst um dreiundzwanzig Uhr, als er daheim war und im Bett lag – in der Dunkelheit, in der man sogar vor dem Televisor sicher war, solange man sich still verhielt –, konnte er ungestört nachdenken.
Es galt ein technisches Problem zu lösen: wie konnte er wohl mit dem Mädchen in Verbindung treten und ein Stelldichein mit ihr verabreden? Die Möglichkeit, daß sie ihm nur eine Falle stellen wollte, zog er nicht mehr in Betracht. Er wußte auf Grund ihrer unverkennbaren Aufregung, als sie ihm den Zettel ausgehändigt hatte, daß dem nicht so war. Offensichtlich war sie vor Angst völlig durcheinander gewesen, was durchaus erklärlich war. Auch kam ihm nicht einen Augenblick lang in den Sinn, ihre Annäherungsversuche zurückzuweisen. Erst vor fünf Nächten wollte er ihr in Gedanken mit einem Pflasterstein den Schädel einschlagen; aber das hatte nichts zu bedeuten. Er dachte an ihren nackten, jugendlichen Körper, wie er ihn in seinem Traum gesehen hatte. Er hatte geglaubt, sie sei wie alle die anderen, den Kopf vollgestopft mit Lügen und Haß, der Leib ein einziger Eisklumpen. Eine Art Fieber befiel ihn bei dem Gedanken, er könnte sie verlieren, der junge weiße Leib könnte sich ihm entziehen. Mehr als alles andere fürchtete er, sie könnte es sich noch einmal anders überlegen, wenn er nicht rasch mit ihr in Beziehung trat. Aber die technische Schwierigkeit, sie zu treffen, war enorm. Es war, als wollte man beim Schachspiel einen Zug machen, nachdem man bereits matt gesetzt worden war. Wohin man auch den Blick wandte, wurde man vom Televisor beobachtet. Tatsächlich waren ihm schon in den ersten fünf Minuten, nachdem er den Zettel gelesen hatte, alle Möglichkeiten, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, durch den Kopf geschossen. Jetzt aber, da er zum Nachdenken Muße hatte, prüfte er sie noch einmal eine nach der anderen, als lege er sich eine Reihe von Instrumenten zurecht.
Offensichtlich konnte eine Verständigung, wie sie heute morgen stattgefunden hatte, nicht wiederholt werden. Hätte sie in der Registraturabteilung gearbeitet, so wäre es verhältnismäßig leicht gewesen; aber er hatte nur eine sehr ungenaue Vorstellung, in welchem Teil des riesigen Gebäudes die Literaturabteilung lag, und erst recht keinen Vorwand, dorthin zu gehen. Hätte er gewußt, wo sie wohnte und um welche Zeit sie ihren Arbeitsplatz verließ, dann hätte er es einrichten können, ihr irgendwo auf dem Heimweg zu begegnen.
Aber der Versuch, ihr vom Büro bis zum Haus nachzugehen, war nicht ratsam, denn er hätte ein Herumstehen vor dem Ministerium mit sich gebracht, und das wäre vermutlich aufgefallen. Einen Brief durch die Post zu schicken, kam auch nicht in Frage. Es war ein offenes Geheimnis, daß üblicherweise alle Briefe vor der Zustellung geöffnet wurden. Es schrieben praktisch auch nur wenig Leute Briefe. Für die Mitteilungen, die man sich gelegentlich zu machen hatte, gab es vorgedruckte Postkarten mit einer Anzahl von Sätzen, von denen man die nichtzutreffenden durchstrich. Überdies wußte er ja nicht einmal den Namen des Mädchens, geschweige denn ihre Adresse. Schließlich kam er zu dem Schluß, daß der sicherste Ort die Kantine blieb. Wenn er sie allein an einem Tisch irgendwo in der Mitte des Raumes, nicht zu nahe von einem Televisor und inmitten des alles übertönenden Stimmengewirrs erwischen konnte – und seien diese Vorbedingungen auch nur dreißig Sekunden lang gegeben –, so konnte es möglich sein, ein paar Worte mit ihr zu wechseln.
Während der folgenden Woche war das Leben wie ein quälender Traum. Gleich am Tage darauf erschien sie erst in der Kantine, als er aufbrechen mußte, weil die Sirene bereits ertönte. Vermutlich war sie einer späteren Schicht zugeteilt worden. Sie gingen ohne einen Seitenblick aneinander vorbei. Am nächsten Tage saß sie zu der üblichen Zeit in der Kantine, aber zusammen mit drei anderen Mädchen und unmittelbar unter einem Televisor. Dann erschien sie drei schreckliche Tage lang überhaupt nicht mehr. Winston schien an Körper und Geist von einer unerträglichen Übersensibilität heimgesucht zu werden, er war wie aus Glas, so daß jede Bewegung, jeder Laut, jede Berührung, jedes Wort, das er aussprechen oder anhören mußte,
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