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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Zettelchen konnte eine Drohung stehen, eine Vorladung, die Aufforderung, Selbstmord zu begehen, es konnte auch irgendeine Falle sein. Aber es gab eine andere, noch tollere Möglichkeit, und sie ließ sich nicht verscheuchen, wenn er auch vergebens versuchte, sie aus seinen Gedanken zu verbannen. Daß nämlich die Nachricht überhaupt nicht von der Gedankenpolizei kam, sondern von einer Art Untergrundbewegung. Vielleicht gab es »Die Brüderschaft« doch! Vielleicht gehörte das Mädchen ihr an! Kein Zweifel, der Gedanke war absurd, aber er war ihm sofort durch den Kopf geschossen, als er das Stückchen Papier in seiner Hand spürte. Erst ein paar Minuten später war ihm die andere, wahrscheinlichere Möglichkeit in den Sinn gekommen. Und sogar jetzt noch – wenn ihm auch sein Verstand sagte, daß die Botschaft vermutlich den Tod bedeutete –, sogar jetzt konnte er noch immer nicht daran glauben, und er klammerte sich an eine unvernünftige Hoffnung. Sein Herz klopfte, und nur mühsam konnte er ein Zittern seiner Stimme vermeiden, während er seine Zahlen in den Sprechschreiber hineinmurmelte.
    Er rollte den erledigten Stoß Papiere zusammen und steckte ihn in die Rohrposttrommel. Acht Minuten waren verstrichen. Er schob die Brille auf der Nase zurecht, seufzte und zog das nächste Bündel Akten zu sich heran, auf dem das Zettelchen lag. Er strich es glatt. In einer großen, unbeholfenen Handschrift stand darauf: Ich liebe Sie.
    Mehrere Sekunden lang war er zu verblüfft, um das belastende Papier in das Gedächtnis-Loch zu werfen.
    Als er es endlich tat, konnte er – obwohl er sehr gut die Gefahr eines zu lebhaft bekundeten Interesses kannte – nicht der Versuchung widerstehen, es noch einmal zu lesen, nur um sich zu überzeugen, ob diese Worte wahrhaftig dastünden.
    Den übrigen Vormittag fiel ihm das Arbeiten sehr schwer. Schwieriger noch, als seine Aufmerksamkeit auf eine Reihe langwieriger Arbeiten zu konzentrieren, war die Notwendigkeit, seine Aufregung vor dem Televisor verbergen zu müssen. Ihm war, als brenne ein Feuer in ihm. Das Mittagessen in der heißen, oft überfüllten, lärmenden Kantine war eine Tortur. Er hatte gehofft, während der Mittagspause ein wenig allein zu sein, aber wie es das Unglück wollte, ließ sich der blonde Parsons neben ihm auf einen Stuhl plumpsen, wobei seine scharfe Schweißausdünstung beinahe den metallenen Eintopfgeruch verdrängte. Er schwatzte unaufhörlich von den Vorbereitungen für die Haß-Woche . Er war besonders begeistert über einen zwei Meter breiten Kopf des Großen Bruders aus Papiermaché, der zu der Veranstaltung von dem Späher -Fähnlein seiner Tochter angefertigt wurde. Das Lästige war, daß Winston bei dem Stimmengewirr kaum hören konnte, was Parsons sagte, und ihn dauernd bitten mußte, die eine oder andere seiner belanglosen Bemerkungen zu wiederholen. Nur einmal konnte er einen flüchtigen Blick auf das Mädchen werfen, das am anderen Ende des Raumes an einem Tisch mit zwei Kolleginnen saß. Sie schien ihn nicht gesehen zu haben, und er vermied es, nochmals in die gleiche Richtung zu blicken.
    Der Nachmittag war erträglicher. Sofort nach dem Essen traf ein höchst kniffliges Stück Arbeit ein, das mehrere Stunden in Anspruch nahm und es notwendig machte, alles andere beiseite zu legen. Es bestand darin, eine Reihe von zwei Jahre zurückliegenden Produktionsziffern so zu verfälschen, daß ein prominentes Mitglied der Inneren Partei, das gerade in Ungnade gefallen war, dadurch in Mißkredit gebracht wurde. Es war eine Arbeit, in der Winston sich besonderes Geschick erworben hatte, und für über zwei Stunden vermochte er das Mädchen vollständig aus seinem Denken auszuschalten. Dann kehrte die Erinnerung an ihr Gesicht zurück, und mit ihr ein rasendes, schier unerträgliches Verlangen, allein zu sein. Ehe er nicht allein sein konnte, war es unmöglich, über diese neue Wendung der Dinge nachzudenken. Heute war für ihn Pflichtabend im Gemeinschaftshaus. Er schlang in der Kantine eine nach nichts schmeckende Mahlzeit hinunter, eilte dann fort zum Gemeinschaftshaus, nahm an dem feierlichen Unfug einer sogenannten »Diskussionsgruppe« teil, spielte zwei Partien Tischtennis, stürzte mehrere Glas Gin hinunter und ließ eine halbe Stunde einen Vortrag über das Thema »Engsoz und seine Beziehungen zum Schachspiel« über sich ergehen. Innerlich wand er sich vor Langeweile, aber zum ersten Male seit einiger Zeit hatte er nicht das Bedürfnis

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