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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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ist, wenn man sie zu lesen versteht, eine Botschaft aus der Zeit vor hundert Jahren.«
    »Und dieses Bild dort drüben« – sie deutete mit dem Kopf nach dem Stich an der gegenüberliegenden Wand –, »ist das auch hundert Jahre alt?«
    »Noch mehr. Zweihundert würde ich sagen. Man weiß es nicht. Man kann heutzutage unmöglich das Alter irgendeiner Sache festhalten.«
    Sie ging hinüber, um es näher zu betrachten. »Da hat das Biest seine Nase herausgestreckt«, sagte sie dabei und versetzte gerade unter dem Bild der Holzleiste einen Tritt. »Was ist das für ein Gebäude? Ich habe es schon irgendwo gesehen.«
    »Eine Kirche – jedenfalls war es früher eine. St. Clement's Dane hieß sie.« Die Verszeile, die Mr.
    Charrington ihn gelehrt hatte, fiel ihm wieder ein, und er fügte halb sehnsüchtig hinzu: »Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's!«
    Zu seinem Erstaunen ergänzte sie den Reim:
    »›You owe me three farthings,
    Say the bells of St. Martin's,
    When will you pay me?
    Say the bells of Old Bailey –‹
    Ich weiß nicht, wie es danach weitergeht. Aber jedenfalls erinnere ich mich, wie es schließt: ›Here comes a candle to light you to bed, here comes a chopper to chop off your head!‹ «
    Es war wie die zwei Stichworte eines Erkennungszeichens. Aber es mußte nach »the bells of Old Bailey«
    noch ein anderer Vers kommen. Vielleicht konnte man ihn aus Mr. Charringtons Erinnerung ausgraben, wenn er gerade in der richtigen Stimmung war.
    »Wer hat dir das beigebracht?« fragte er.
    »Mein Großvater. Er sagte es mir immer vor, als ich ein kleines Mädchen war. Er wurde vaporisiert, als ich acht Jahre alt war – jedenfalls verschwand er spurlos. Ich würde gern wissen, was eine Zitrone ist«, fügte sie sprunghaft hinzu. »Orangen habe ich gesehen. Es sind so runde gelbe Früchte mit einer dicken Schale.«
    »Ich kann mich auch noch auf Zitronen besinnen«, sagte Winston. »Sie waren in den fünfziger Jahren etwas ganz Gewöhnliches. Sie waren so sauer, daß schon allein beim Riechen der Mund zusammengezogen wurde.«
    »Ich wette, hinter diesem Bild sind Wanzen«, sagte Julia. »Ich werde es gelegentlich herunternehmen und tüchtig saubermachen.
    Ich glaube, es ist langsam Zeit zum Aufbrechen. Ich muß anfangen, mir diese Schminke abzuwaschen.
    Wie schade! Hinterher werde ich dir den Lippenstift vom Gesicht abwischen.«
    Winston blieb noch ein paar Minuten länger liegen. Im Zimmer wurde es immer dunkler. Er drehte sich dem Lichte zu und starrte auf den gläsernen Briefbeschwerer. Das unerschöpflich Interessante daran war nicht so sehr das Stück Koralle als das Innere des Glases selbst. Es hatte eine solche Tiefe, dabei war es fast so durchsichtig wie Luft. Es war, als wäre die Oberfläche des Glases die Himmelskuppel, die eine winzige Welt mit ihrer ganzen Atmosphäre einschloß. Er hatte das Gefühl, als könnte er in sie hineintreten, ja, als lebe er in Wirklichkeit darin, zusammen mit dem Mahagonibett und dem Klapptisch, der Uhr, dem Stahlstich und dem Briefbeschwerer selbst. So glich der Briefbeschwerer dem Zimmer, in dem er sich befand, und die Koralle seinem Leben und dem Julias, das im Herzen des Kristalls gleichsam wie für die Ewigkeit im Panzer lag.

Fünftes Kapitel
    Syme war plötzlich verschwunden. Eines Morgens fehlte er bei der Arbeit: ein paar gedankenlose Leute sprachen über sein Fortbleiben doch am nächsten Tag erwähnte ihn niemand mehr. Drei Tage später ging Winston in die Vorhalle seiner Abteilung, um auf dem Anschlagbrett etwas nachzusehen. Einer der Anschläge bestand aus einer gedruckten Liste des Schachkomitees, dem Syme angehört hatte. Sie sah fast genauso aus wie vorher – keine Zeile war durchgestrichen –, aber sie war um einen Namen kürzer geworden.
    Das genügte. Syme hatte aufgehört zu existieren oder richtiger: Er hatte nie existiert.
    Das Wetter war von einer Backofenhitze. Im Labyrinth des Ministeriums zwar behielten die fensterlosen Räume ihre automatisch geregelte Normaltemperatur bei, draußen aber versengte einem das Pflaster beinahe die Schuhsohlen, und während der Hauptverkehrsstunden war in der Untergrundbahn die Stickluft grauenhaft. Die Vorbereitungen für die Haß-Woche waren in vollem Gange, und die Belegschaften aller Ministerien machten Überstunden. Umzüge, Versammlungen, Paraden, Vorträge, Ausstellungen, Filmvorführungen, Fernsehprogramme – alles das mußte vorbereitet, Tribünen mußten erbaut, Bilder zur öffentlichen

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