Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
besprechen«, sagte er. »Ich nehme an, Sie haben irgendein Versteck?«
    Winston berichtete von dem Zimmer über Mr. Charringtons Laden.
    »Das wird für den Augenblick genügen. Später werden wir etwas anderes für Sie finden. Es ist wichtig, sein Versteck häufig zu wechseln. Inzwischen sende ich Ihnen ein Exemplar von dem Buch « – sogar O'Brien, bemerkte Winston, schien die Worte so auszusprechen, als wären sie in Kursivschrift geschrieben –, »von Goldsteins Buch, Sie verstehen, so bald wie möglich. Es kann ein paar Tage dauern, ehe ich eines in die Hände bekommen kann. Es gibt nicht viele Exemplare, wie Sie sich wohl denken können. Die Gedankenpolizei macht Jagd darauf und vernichtet sie fast ebenso rasch, wie wir sie drucken können. Das hilft ihr aber nur sehr wenig. Das Buch ist unvernichtbar. Wäre auch das letzte Exemplar verlorengegangen, so könnten wir den Inhalt doch Wort für Wort wiedergeben. Haben Sie eine Mappe bei sich, wenn Sie an Ihre Arbeit gehen?« fügte er hinzu.
    »In der Regel, ja.«
    »Wie sieht sie aus?«
    »Schwarz, sehr schäbig. Mit zwei Tragriemen.«
    »Schwarz, zwei Tragriemen, sehr schäbig – gut. An einem der nächsten Tage – ich kann kein genaues Datum angeben – wird eine der Mitteilungen unter Ihren Vormittagsarbeiten ein verdrucktes Wort enthalten, und Sie müssen um eine Richtigstellung bitten. Am nächsten Tag gehen Sie dann ohne Ihre Mappe an die Arbeit. Im Laufe des Tages wird Sie auf der Straße ein Mann am Arm berühren und sagen:
    ›Ich glaube, Sie haben Ihre Mappe fallen lassen.‹ Die Mappe, die er Ihnen dann gibt, wird ein Exemplar von Goldsteins Buch enthalten. Sie geben es binnen vierzehn Tagen zurück.«
    Sie schwiegen einen Augenblick.
    »Es bleiben nur noch zwei Minuten, ehe Sie gehen müssen«, sagte O'Brien. »Wir werden uns wiedersehen – falls wir uns wiedersehen –«
    Winston blickte zu ihm auf. »An dem Ort, wo keine Dunkelheit herrscht?« sagte er zögernd.
    O'Brien nickte, ohne Verwunderung zu verraten. »An dem Ort, wo keine Dunkelheit herrscht«, sagte er, so als habe er die Anspielung verstanden.
    »Und inzwischen, gibt es noch etwas, was Sie sagen möchten, bevor Sie gehen? Eine Botschaft? Eine Frage?«
    Winston überlegte. Es schien keine Frage mehr zu geben, die er hätte stellen wollen: noch weniger verspürte er Lust, hochtrabende Phrasen zu stammeln. Statt etwas, das unmittelbar mit O'Brien oder der Brüderschaft zu tun hatte, ging ihm ein verschwommenes Bild von dem düsteren Schlafzimmer, in dem seine Mutter ihre letzten Tage verbracht hatte, und dem kleinen Zimmer über Mr. Charringtons Laden mit dem gläsernen Briefbeschwerer und dem Stahlstich in seinem Rosenholzrahmen durch den Sinn. Auf gut Glück sagte er:
    »Haben Sie zufällig jemals einen alten Reim gehört, der ›Oranges and lemons, say the bells of St.
    Clement's‹ anfing?«
    Wieder nickte O'Brien. Mit einer Art ernster Höflichkeit ergänzte er die Strophe:
    »Oranges and lemons, say the bells of St. Ctement's,
    You owe me three farthings, say the bells of St. Martin's,
    When will you pay me? say the bells of Old Bailey,
    When l grow rich, say the bells of Shoreditch.«
    »Sie kennen den letzten Vers!« rief Winston aus.
    »Ja, ich kenne den letzten Vers. Und jetzt, fürchte ich, ist es Zeit für Sie zu gehen. Aber warten Sie. Lassen Sie mich Ihnen lieber eine von diesen Tabletten geben.«
    Als Winston aufstand, reichte ihm O'Brien die Hand. Sein kräftiger Griff drückte Winstons Handteller bis auf den Knochen. Bei der Tür blickte Winston zurück, aber O'Brien schien bereits im Begriff, ihn aus seinem Gedächtnis zu streichen. Er wartete mit der Hand an dem Knopf, mit dem man den Televisor einschaltete.
    Hinter ihm konnte Winston den Schreibtisch mit seiner grüngeschirmten Lampe, den Sprechschreiber und das mit Papieren vollgehäufte Drahtablegekörbchen sehen. Die Sache war erledigt. In dreißig Sekunden, kam ihm zum Bewußtsein, würde O'Brien wieder bei seiner unterbrochenen, wichtigen Arbeit für die Partei sein.

Neuntes Kapitel
    Winston war von einer gallertartigen Müdigkeit. Gallertartig war das richtige Wort. Es war ihm von selbst in den Sinn gekommen. Sein Körper schien nicht nur eine gelatineartige Weichheit, sondern auch eine ebensolche Durchsichtigkeit angenommen zu haben. Er hatte das Gefühl, würde er die Hand hochhalten, dann könnte er das Licht hindurchscheinen sehen. Sämtliche roten und weißen Blutkörperchen waren ihm durch eine riesige

Weitere Kostenlose Bücher