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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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durchlief die Menge eine Welle des Verstehens. Ozeanien befand sich im Krieg mit Ostasien! Im nächsten Augenblick begann eine ungeheure Geschäftigkeit. Die Fahnen und Plakate, mit denen der Platz dekoriert war, stimmten sämtlich nicht mehr.
    Gut die Hälfte davon stellte die falschen Gesichter dar. Es war Sabotage! Die Agenten Goldsteins waren am Werk gewesen! Ein lärmendes Zwischenspiel setzte ein, bei dem Anschläge von den Mauern gerissen, Fahnen zerfetzt und zertrampelt wurden. Die Späher vollführten Wunder an Tatkraft darin, auf Dächer zu klettern und von den Kaminen flatternde Spruchbänder abzuschneiden. Aber in ein paar Minuten war alles zu Ende. Der Sprecher, noch immer mit einer Hand das Mikrophon umklammernd, die Schultern vorgebeugt, die freie Hand in die Luft gekrallt, war unbeirrt in seiner Rede fortgefahren. Noch eine Minute, und die wilden Wutschreie brachen erneut aus der Volksmenge hervor. Die Haßdemonstration nahm genau wie vorher ihren Fortgang, nur daß die Zielscheibe sich geändert hatte.
    Winston war nachträglich besonders davon beeindruckt, daß der Sprecher tatsächlich mitten im Satz nicht nur ohne zu stocken von einer Richtung in die andere umgeschaltet, sondern nicht einmal den Satzbau abgewandelt hatte. Aber augenblicklich beschäftigten ihn andere Dinge. Im Augenblick der Verwirrung, als die Plakate abgerissen wurden, hatte ihn ein Mann, dessen Gesicht er nicht sehen konnte, auf die Schulter geklopft und gesagt: »Verzeihung, ich glaube, Sie haben Ihre Mappe fallen lassen.« Zerstreut und wortlos griff er nach der Mappe. Er wußte, daß Tage vergehen würden, ehe sich ihm die Möglichkeit bot, einen Blick hineinzuwerfen. Sofort nach Beendigung der Demonstration ging er zum Wahrheitsministerium, obwohl es mittlerweile fast dreiundzwanzig Uhr war. Die gesamte Belegschaft des Ministeriums hatte dasselbe getan.
    Die bereits aus den Televisoren tönenden Befehle, die sie auf ihre Posten zurückriefen, wären kaum nötig gewesen.
    Ozeanien lag im Krieg mit Ostasien: Ozeanien war immer mit Ostasien im Krieg gelegen. Ein Großteil der politischen Literatur der letzten fünf Jahre war jetzt vollkommen unbrauchbar geworden. Berichte und Aufzeichnungen aller Art, Zeitungen, Bücher, Flugschriften, Filme, Sprechplatten, Fotografien – alles mußte mit Blitzesschnelle richtiggestellt werden. Wenn auch keinerlei Direktiven erlassen wurden, so wußte man doch, daß die Abteilungsleiter wünschten, binnen einer Woche sollte nirgendwo mehr eine Anspielung auf den Krieg mit Eurasien oder das Bündnis mit Ostasien übriggeblieben sein. Es war eine Riesenarbeit, die noch dadurch erschwert wurde, daß die erforderlichen Prozeduren nicht bei ihrem wahren Namen genannt werden durften. Jedermann in der Registraturabteilung arbeitete achtzehn von den vierundzwanzig Stunden des Tages, mit zwei hastigen dreistündigen Schlafpausen. Strohsäcke wurden aus den Kellern heraufgebracht und überall auf den Gängen ausgebreitet. Die Mahlzeiten bestanden aus Victory-Kaffee und belegten Broten, die von dem Personal der Kantine auf Wägelchen herumgefahren wurden. Jedesmal, wenn Winston für eine seiner Schlafpausen die Arbeit unterbrach, versuchte er seinen Schreibtisch von allen Arbeiten aufgeräumt zu hinterlassen, um jedesmal, wenn er mit verquollenen Augen und gerädert am ganzen Leib zurückgeschlichen kam, einen neuen Schauer von Papierröllchen vorzufinden, der die Schreibtischplatte wie eine Schneewehe bedeckt hatte, den Sprechschreiber zur Hälfte begrub und auf den Fußboden überfloß, so daß seine erste Tätigkeit immer darin bestand, sie zu einem sauberen Haufen zu ordnen, um Platz zum Arbeiten zu haben. Am schlimmsten von allem war, daß es sich durchaus nicht nur um mechanische Arbeiten handelte. Oft genügte es, lediglich einen Namen durch einen anderen zu ersetzen, aber jeder in Einzelheiten gehende Tatsachenbericht erforderte Sorgfalt und Phantasie. Sogar die geographischen Kenntnisse, über die man verfügen mußte, um den Krieg von einem Weltteil in den anderen zu verlegen, waren beträchtlich.
    Am dritten Tag schmerzten ihn die Augen unerträglich, und seine Brillengläser mußten alle paar Minuten geputzt werden. Es war wie ein Kampf mit einer zermürbenden körperlichen Aufgabe, etwas, das man zwar zu tun sich weigern konnte und das man sich doch mit einer nervenüberreizten Beflissenheit zu bewältigen bemühte. Soweit er überhaupt Zeit hatte, sich daran zu erinnern, störte es ihn

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