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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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nicht, daß jedes von ihm in den Sprechschreiber gemurmelte Wort, jeder Strich seines Tintenbleistifts eine bewußte Lüge war. Er war ebenso wie jeder andere in der Abteilung darauf bedacht, die Fälschung vollkommen zu machen. Am Morgen des sechsten Tages nahm der Papierröllchenregen ab. Eine ganze halbe Stunde lang kam nichts aus der Rohrpostleitung heraus; dann noch einmal eine Rolle, dann nichts. Überall um etwa die gleiche Zeit nahm die Arbeit ab. Ein tiefer und – so wie die Dinge lagen – geheimer Seufzer durchlief die Abteilung. Eine Riesenleistung, die nie erwähnt werden durfte, war vollbracht. Jetzt war es für niemand mehr möglich, durch dokumentarische Beweise zu belegen, daß der Krieg mit Eurasien jemals stattgefunden hatte. Schlag zwölf Uhr wurde unerwartet bekannt gegeben, alle im Ministerium Beschäftigten hätten bis morgen früh frei.
    Winston, noch immer die Mappe mit dem Buch bei sich tragend, die er während der Arbeit zwischen seine Füße gestellt und beim Schlafen unter seinen Körper geschoben hatte, ging nach Hause, rasierte sich und schlief fast in seinem Bad ein, obwohl das Wasser kaum mehr als lauwarm war.
    Mit einer Art wollüstigen Knackens seiner Gelenke stieg er die Treppe über Herrn Charringtons Laden hinauf. Er war müde, aber nicht mehr schläfrig. Er öffnete das Fenster, zündete den verdreckten kleinen Petroleumkocher an und stellte einen Topf Wasser für den Kaffee auf. Julia würde gleich kommen; derweilen konnte er sich dem Buch widmen. Er setzte sich in den zerschlissenen Lehnstuhl und schnallte die Riemen der Mappe auf.
    Ein schwerer schwarzer Band, unfachmännisch gebunden, ohne Namen oder Titel auf dem Einband.
    Auch der Druck sah ein wenig unregelmäßig aus. Die Seiten waren an den Ecken abgegriffen und fielen leicht auseinander, so als sei das Buch durch viele Hände gegangen. Die Überschrift der ersten Seite lautete: T H E O R I E U N D P R A X I S D E S O L I G A R C H I S C H E N K O L L E K T I V I S M U S Von Immanuel Goldstein Winston begann zu lesen:
    1. Kapitel
    Unwissenheit ist Stärke
    Seit Beginn der geschichtlichen Überlieferung, und vermutlich seit dem Ende des Steinzeitalters, gab es auf der Welt drei Menschengattungen: die Ober-, die Mittel- und die Unterschicht. Sie waren mehrfach unterteilt, führten zahllose verschiedene Namensbezeichnungen, und sowohl ihr Zahlenverhältnis wie ihre Einstellung zueinander wandelten sich von einem Jahrhundert zum anderen: Die Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft jedoch hat sich nie gewandelt. Sogar nach gewaltigen Umwälzungen und scheinbar unwiderruflichen Veränderungen hat sich immer wieder die gleiche Ordnung durchgesetzt, ganz so wie ein Kreisel immer wieder das Gleichgewicht herzustellen bestrebt ist, wie sehr man ihn auch nach der einen oder anderen Seite neigt.
    Die Ziele dieser drei Gruppen sind miteinander vollkommen unvereinbar . . .
    Winston hielt mit dem Lesen inne, hauptsächlich um sich genießerisch die Tatsache vor Augen zu halten, daß er in Geborgenheit und Sicherheit las. Er war allein: kein Televisor, kein Ohr am Schlüsselloch, kein nervöser Zwang, über die Schulter hinter sich zu blicken oder die Buchseite mit der Hand zu bedecken. Die milde Sommerluft streichelte seine Wange. Von irgendwo weit her drangen gedämpfte Kinderlaute; im Zimmer selbst kein Geräusch außer dem insektenhaften Ticken der Uhr. Er setzte sich tiefer in seinen Lehnstuhl zurück und legte die Füße auf das Kamingitter. Es war Seligkeit, war Zeitlosigkeit. Plötzlich, wie man es manchmal mit einem Buch macht, von dem man weiß, daß man am Schluß jedes Wort lesen und noch einmal lesen wird, schlug er es an einer anderen Stelle auf und stieß auf das dritte Kapitel. Er fuhr zu lesen fort:
    3. Kapitel
    Krieg bedeutet Frieden
    Die Aufteilung der Welt in drei große Super-Staaten war ein Ereignis, das bereits vor der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts vorauszusehen war und auch tatsächlich vorausgesehen wurde. Mit der Einverleibung Europas durch Rußland und des Britischen Empires durch die Vereinigten Staaten waren bereits zwei von den drei heute bestehenden Mächten in Erscheinung getreten. Die dritte, Ostasien, zeichnete sich erst nach einem weiteren Jahrzehnt verworrener Kämpfe als deutliche Einheit ab. Die Grenzen zwischen den drei Superstaaten sind an manchen Stellen willkürlich, an anderen schwanken sie je nach Kriegsglück, aber im allgemeinen folgen sie geographischen Gegebenheiten. Eurasien

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