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1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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Arbeitsüberlastung abgezapft worden, so daß nur die zerbrechliche Struktur von Nerven, Knochen und Haut übriglieb. Alle Empfindungen waren übersteigert. Sein Trainingsanzug rieb seine Schultern wund, das Straßenpflaster schmerzte seine Fußsohlen, sogar das Öffnen und Schließen einer Hand bedeutete schon eine Anstrengung, die seine Gelenke knacken ließ.
    In den letzten fünf Tagen hatte er mehr als neunzig Stunden gearbeitet. Das gleiche galt von jedem anderen im Ministerium Beschäftigten. Jetzt war alles erledigt, und er hatte bis morgen früh buchstäblich nichts mehr, auch nicht die geringste Arbeit für die Partei zu tun. Er konnte sechs Stunden in seinem Schlupfwinkel und weitere neun daheim in seinem Bett verbringen. Langsam ging er in dem milden Nachmittagssonnenschein eine schmutzige Straße in Richtung auf Herrn Charringtons Laden hinunter, mit einem wachsamen Auge für mögliche Streifen, aber, ohne es begründen zu können, in der festen Überzeugung, daß an diesem Nachmittag für ihn keine Gefahr bestand, von jemand angehalten zu werden.
    Die schwere Mappe, die er trug, stieß bei jedem Schritt gegen sein Knie und jagte ihm einen kribbelnden Schauer die Haut seines Beins hinauf und hinunter. In ihr war das Buch , das jetzt seit sechs Tagen in seinem Besitz war und das er noch nicht aufgemacht, ja noch nicht einmal angesehen hatte.
    Am sechsten Tag der Haß-Woche , nach den Umzügen, den Ansprachen, dem Beifallsgeschrei, dem Liederabsingen, den Standarten, den Maueranschlägen, den Filmvorführungen, den plastischen Darstellungen, dem Trommelschlagen und Trompetengeschmetter, dem Gleichschritt marschierender Füße, dem Knirschen der Raupenketten von Panzern, dem Motorengedröhn von Flugzeugstaffeln, den Salutschüssen der Geschütze – nach sechs solchen Tagen, als die Erregung der Gemüter ihren Höhepunkt erreicht hatte und der allgemeine Haß auf Eurasien zu solcher Siedehitze geschürt worden war, daß die Menge, wenn sie Hand an die zweitausend eurasischen Kriegsverbrecher hätte legen können, die am letzten Tag der Veranstaltung öffentlich gehängt werden sollten, sie unweigerlich in Stücke gerissen hätte – genau in diesem Augenblick wurde bekannt gegeben, Ozeanien befinde sich keineswegs im Kriegszustand mit Eurasien. Ozeanien befinde sich im Kriegszustand mit Ostasien. Eurasien war ein Verbündeter.
    Selbstverständlich wurde nicht zugegeben, daß eine Veränderung eingetreten war. Es wurde lediglich ganz plötzlich und überall gleichzeitig bekannt gemacht, daß Ostasien und nicht Eurasien der Feind sei.
    Winston nahm gerade an einer Kundgebung teil, die auf einem der im Mittelpunkt von London gelegenen Plätze stattfand, als diese Bekanntgabe erfolgte. Es war Nacht, und die weißen Gesichter und roten Banner waren gespenstisch vom Scheinwerferlicht angestrahlt. Auf dem Platz drängten sich mehrere tausend Menschen, darunter ein Zug von etwa tausend Schulkindern in Späheruniform. Auf einer mit scharlachrotem Stoff drapierten Rednerbühne hielt ein Sprecher der Inneren Partei, ein kleiner, hagerer Mann mit unverhältnismäßig langen Armen und einem großen, kahlen Schädel, über den ein paar dünne Haarsträhnen gelegt waren, eine feierliche Rede an die Menge. Eine kleine Rumpelstilzchengestalt, verkrümmt von Haß, hielt er mit einer Hand das Mikrophon, während die andere, riesig am Ende eines knochigen Armes, sich drohend in die Luft über seinem Kopf krallte. Seine durch den Lautverstärker metallisch gefärbte Stimme brüllte eine endlose Aufzählung von Greueltaten, Massenabschlachtungen, Verschleppungen, Plünderungen, Vergewaltigungen, Gefangenenfolterungen, Bombardierung von Zivilisten, Lügenpropaganda, unprovozierten Angriffen, gebrochenen Verträgen heraus. Es war fast nicht möglich, ihm zuzuhören, ohne zuerst überzeugt und dann empört zu werden. Alle paar Augenblicke kochte die Wut der Menge über, und die Stimme des Redners ging in einem wilden tierischen Gebrüll unter, das hemmungslos aus tausend Kehlen hervorbrach. Die wüstesten Wutschreie kamen von den Schulkindern.
    Die Ansprache war seit etwa zwanzig Minuten im Gange, als ein Bote auf die Rednertribüne eilte und dem Sprecher ein Zettel in die Hand gedrückt wurde. Er entfaltete und las ihn, ohne seine Rede zu unterbrechen.
    Nichts in seiner Stimme oder in seinem Gehaben änderte sich, auch nichts im Inhalt seiner Rede, doch plötzlich lauteten die Namen anders. Ohne daß Worte gefallen wären,

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