Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)

Titel: 1984 (Kurt Wagenseil: Übers.) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
Vom Netzwerk:
Verständnisses. Wie ernst er sich auch geben mochte, so haftete ihm doch nichts von der sturen Unentwegtheit des Fanatikers an. Wenn er von Mord, Selbstmord, Geschlechtskrankheit, amputierten Gliedmaßen und veränderten Gesichtern sprach, so geschah es mit einem leisen Unterton von Spott. »Das läßt sich nicht vermeiden«, schien seine Stimme zu sagen, »das müssen wir unerbittlich tun. Aber wir tun es nicht mehr, wenn erst das Leben wieder lebenswert sein wird.«
    Eine Welle der Bewunderung, fast der Verehrung, wallte in Winston für O'Brien auf. Für einen Augenblick hatte er die Schattengestalt Goldsteins vergessen. Wenn man O'Briens mächtige Schultern und sein derbgeschnittenes, unschönes und doch so gewinnendes Gesicht ansah, konnte man sich unmöglich vorstellen, er könnte jemals eine Niederlage erleiden. Es gab keine Kriegslist, der er nicht gewachsen war, keine Gefahr, die er nicht vorhersah. Sogar Julia schien beeindruckt. Sie hatte ihre Zigarette ausgehen lassen und lauschte gespannt. O'Brien fuhr fort:
    »Sie werden Gerüchte vom Vorhandensein der Brüderschaft gehört haben. Zweifellos haben Sie sich Ihr eigenes Bild von ihr gemacht. Sie haben sich vermutlich eine weitverzweigte Untergrundbewegung von Verschwörern vorgestellt, die sich heimlich in Kellern treffen, Mitteilungen an Häusermauern kritzeln und einander an Losungsworten oder einem besonderen Händedruck erkennen. Nichts dergleichen gibt es. Die Mitglieder der Brüderschaft haben keine Mittel, einander zu erkennen, und es besteht keine Möglichkeit, daß ein Mitglied mehr als ein paar sehr wenige als ihm persönlich bekannt nennen könnte. Goldstein selbst könnte der Gedankenpolizei, wenn er ihr in die Hände fiele, keine vollständige Mitgliederliste oder sonst einen Hinweis geben, auf Grund dessen sie sich eine vollständige Liste beschaffen könnte. Eine solche Liste existiert nicht. Die Brüderschaft kann nicht ausgerottet werden, weil sie keine Organisation im üblichen Sinne ist. Nichts als eine unaustilgbare Idee hält sie zusammen. Sie werden nie etwas anderes zu Ihrer Stütze haben als die Idee. Ihnen wird keine Kameradschaft und keine Ermutigung zuteil. Wenn Sie schließlich erwischt werden, erfahren Sie keine Hilfe. Wir helfen unseren Mitgliedern nie. Höchstens, wenn es unumgänglich ist, daß einer zum Schweigen gebracht wird, können wir gelegentlich eine Rasierklinge in eine Gefängniszelle einschmuggeln. Sie werden sich daran gewöhnen müssen, ohne sichtbare Ergebnisse und ohne Hoffnung zu leben. Sie werden eine Weile tätig sein, dann werden Sie verhaftet werden, gestehen und sterben. Das sind die einzigen für Sie greifbaren Ergebnisse. Es besteht keine Möglichkeit, daß zu unseren Lebzeiten eine sichtbare Veränderung eintritt. Wir sind die Toten. Unser einziges wirkliches Leben liegt in der Zukunft. Wir werden daran teilhaben als ein Häuflein Staub und verwester Gebeine. Aber in wie weiter Ferne diese Zukunft liegt, weiß niemand. Es kann in tausend Jahren sein. In der Gegenwart ist nichts anderes möglich, als den Bereich der Gesundung Schritt um Schritt zu vergrößern. Wir können nicht als Gesamtheit vorgehen. Wir können nur unsere Erkenntnisse von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation weitergeben. In Anbetracht der Gedankenpolizei gibt es keinen anderen Weg.«
    Er hielt inne und blickte zum drittenmal auf seine Armbanduhr.
    »Es ist nachgerade an der Zeit für Sie zu gehen, Genossin«, sagte er zu Julia. »Warten Sie. Die Karaffe ist noch halbvoll.«
    Er füllte die Gläser und hob sein eigenes Glas am Stiel.
    »Auf was soll es diesmal sein?« sagte er, noch immer mit dem gleichen leisen Anflug von Ironie. »Auf den Untergang der Gedankenpolizei? Auf den Tod des Großen Bruders? Auf die Menschheit? Auf die Zukunft?«
    »Auf die Vergangenheit«, sagte Winston.
    »Die Vergangenheit ist wichtiger«, pflichtete O'Brien ernst bei. Sie leerten ihre Gläser, und einen Augenblick später stand Julia auf, um zu gehen. O'Brien nahm eine kleine Schachtel von einem Schränkchen herunter und reichte ihr eine flache weiße Tablette, die er sie auf die Zunge zu legen aufforderte. Es war wichtig, meinte er, nicht nach Wein zu riechen, wenn man hinausging: die Fahrstuhlführer waren sehr aufmerksame Beobachter. Sobald sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, schien er ihr Vorhandensein vergessen zu haben. Er ging noch ein- oder zweimal im Zimmer hin und her, dann blieb er stehen.
    »Es gibt noch Einzelheiten zu

Weitere Kostenlose Bücher