1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
Kriegswaffen zerstört werden, so ist ihre Fabrikation doch ein bequemer Weg, Arbeitskraft zu verbrauchen, ohne etwas zu erzeugen, was konsumiert werden kann. In einer Schwimmenden Festung zum Beispiel steckte eine Arbeitsleistung, mit der man mehrere hundert Frachtschiffe bauen könnte. Am Schluß wird sie als überholt abgewrackt, ohne jemals jemandem wirklichen Nutzen gebracht zu haben, und mit einem weiteren riesigen Arbeitsaufwand wird eine neue Schwimmende Festung gebaut. Im Prinzip dienen die Kriegsanstrengungen dazu, jeden Überschuß, der vielleicht nach Befriedigung der unerläßlichen Bedürfnisse der Bevölkerung verbleiben könnte, aufzuzehren. In der Praxis werden die Bedürfnisse der Bevölkerung immer unterschätzt, mit dem Ergebnis, daß eine chronische Verknappung der Hälfte aller lebenswichtigen Güter herrscht; aber das wird als Vorteil angesehen. Es ist gewollte Politik, sogar die privilegierten Gruppen am Rande der Not zu halten, denn ein allgemeiner Verknappungszustand hebt die Bedeutung von kleinen Privilegien hervor und vergrößert so den Unterschied zwischen einer Gruppe und einer anderen. An dem Lebensstandard zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gemessen, führt selbst ein Mitglied der Inneren Partei ein hartes, arbeitsreiches Leben. Dennoch sieht seine Welt durch die paar Vorzüge, deren er sich erfreut – seine große, gut eingerichtete Wohnung, den besseren Stoff seiner Anzüge, die bessere Qualität seines Essens, Trinkens und Tabaks, seine zwei oder drei Dienstboten, sein Privatauto oder Helikopter –, anders aus als die eines Mitglieds der Äußeren Partei, und die Mitglieder der Äußeren Partei genießen einen ähnlichen Vorteil im Vergleich mit den von uns als »die Proles« bezeichneten, unterdrückten Massen. Die soziale Atmosphäre gleicht der einer belagerten Stadt, in der der Besitz eines Stückes Pferdefleisch den Unterschied zwischen Reichtum und Armut bedeutet. Gleichzeitig läßt das Bewußtsein, im Kriegszustand und deshalb in Gefahr zu sein, es als die natürliche, unvermeidliche Bedingung für ein Weiterleben erscheinen, die gesamte Macht in die Hände einer kleinen Kaste zu legen.
Der Krieg erfüllt nicht nur, wie man sehen wird, das notwendige Zerstörungswerk, sondern erfüllt es auch in einer psychologisch annehmbaren Weise. Im Prinzip wäre es ganz einfach, die überschüssige Arbeit der Welt dadurch verpuffen zu lassen, daß man Tempel und Pyramiden baut, Löcher gräbt und sie wieder zuschüttet, oder sogar große Mengen von Gütern erzeugt und sie dann verbrennt. Aber damit wäre nur die wirtschaftliche, nicht aber die gefühlsmäßige Basis für eine hierarchische Gesellschaftsordnung geschaffen.
Es geht hier nicht um die Moral der Massen, deren Einstellung unwichtig ist, solange sie fest bei der Arbeit gehalten werden, sondern um die Moral der Partei selbst. Sogar von dem einfachsten Parteimitglied wird erwartet, daß es in engen Grenzen fähig, fleißig, ja sogar klug ist, jedoch ist es ebenfalls unerläßlich, daß der Betreffende ein gläubiger und unwissender Fanatiker ist, dessen hauptsächliche Gefühlsregungen Angst, Haß, Speichelleckerei und wilder Triumph sind. Mit anderen Worten, es ist notwendig, daß er eine dem Kriegszustand entsprechende Mentalität besitzt. Es spielt keine Rolle, ob wirklich Krieg geführt wird, und da kein entscheidender Sieg möglich ist, kommt es nicht darauf an, ob der Krieg gut oder schlecht verläuft. Es ist weiter nichts nötig, als daß Kriegszustand herrscht. Die verstandesmäßige Zweiteilung, die die Partei von ihren Mitgliedern verlangt und die leichter in einer Kriegsatmosphäre zustande kommt, ist heute fast allgemein, aber je höher in den Rängen man hinaufkommt, desto deutlicher wird sie. Gerade in der Inneren Partei sind Kriegshysterie und Feindhaß am stärksten vertreten. In seiner Eigenschaft als Administrator muß ein Mitglied der Inneren Partei oft wissen, daß dieser oder jener Punkt der Kriegsmeldungen unwahr ist, und er mag sich häufig bewußt sein, daß der ganze Krieg Spiegelfechterei ist und entweder nicht stattfindet oder aus ganz anderen als den angeblichen Gründen ausgefochten wird: Aber dieses Wissen wird leicht durch die Anwendung des Zwiedenkens neutralisiert. Mittlerweile schwankt kein Inneres Parteimitglied einen Augenblick in seinem mystischen Glauben, daß der Krieg echt ist und mit einem Sieg enden muß, bei dem Ozeanien als der unbestrittene Beherrscher der ganzen Welt
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