1984 (Kurt Wagenseil: Übers.)
hervorgeht.
Alle Mitglieder der Inneren Partei glauben an diese kommende Eroberung wie an einen Glaubensartikel.
Sie wird entweder dadurch erreicht, daß man langsam mehr und immer mehr Gebiete erobert und so eine erdrückende Machtüberlegenheit aufbaut, oder durch die Entdeckung einer neuen Waffe, gegen die es kein Abwehrmittel gibt. Die Suche nach neuen Waffen geht ununterbrochen weiter und ist eine der wenigen übriggebliebenen Tätigkeiten, in denen der Erfinder- oder Forschergeist sich Luft machen kann. In Ozeanien hat heutigen Tags die Wissenschaft im althergebrachten Sinne fast aufgehört zu existieren. In der Neusprache gibt es kein Wort für »Wissenschaft«. Die empirische Denkweise, auf der alle wissenschaftlichen Errungenschaften der Vergangenheit fußten, widerspricht den fundamentalsten Prinzipien von Engsoz. Und sogar ein technologischer Fortschritt wird nur erzielt, wenn seine Erzeugnisse in irgendeiner Weise zur Beschränkung der menschlichen Freiheit benützt werden können. In allen nutzbringenden Künsten steht die Welt entweder still oder macht einen Rückschritt. Die Äcker werden mit Pferdepflug bestellt, während Bücher maschinell geschrieben werden. Aber in lebenswichtigen Dingen – womit in Wirklichkeit Krieg und Polizeibespitzelung gemeint sind – wird die empirische Einstellung auch heute noch ermutigt oder wenigstens geduldet. Die beiden Ziele der Partei sind, die ganze Erdoberfläche zu erobern und ein für allemal die Möglichkeit unabhängigen Denkens auszutilgen. Infolgedessen gibt es zwei große Probleme, deren Lösung die Partei anstrebt. Das eine ist, die Gedanken eines anderen Menschen zu entdecken, ohne daß er sich dagegen wehren kann. Und das andere besteht in der Auffindung eines Verfahrens zur Tötung von mehreren hundert Millionen Menschen in ein paar Sekunden ohne vorhergehende Warnung. Soweit es noch wissenschaftliche Forschung gibt, ist dies ihr Hauptgegenstand. Der heutige Wissenschaftler ist entweder eine Mischung von Psychologe und Inquisitor, der mit ungewöhnlicher Sorgfältigkeit die Bedeutung von Gesichtsausdrücken, Gebärden und Stimmschwankungen studiert und die zu wahrheitsgemäßen Aussagen zwingenden Wirkungen von Drogen, Schock-Therapie, Hypnose und körperlicher Folterung erprobt. Oder er ist ein Chemiker, Physiker oder Biologe, der sich nur mit solchen Fragen seines Spezialfaches beschäftigt, die auf die Vernichtung des Lebens Bezug haben. In den ausgedehnten Laboratorien des Friedensministeriums und den großen, in den brasilianischen Wäldern oder der australischen Wüste oder auf den abgelegenen Inseln der Antarktis verborgenen Versuchsstationen sind Gruppen von Fachleuten unermüdlich am Werk. Manche sind lediglich mit der Bewegungs-, Unterbringungs- und Verpflegungskunde zukünftiger Kriege beschäftigt. Andere dagegen erfinden größere und immer größere Raketengeschosse, Explosivstoffe von immer verheerenderer Wirkung und immer undurchdringlicherer Panzerung. Wieder andere suchen nach neuen und tödlicheren Gasen oder auflösbaren Giften, die in solchen Mengen produziert werden können, um damit die Vegetation ganzer Kontinente zu vernichten, oder nach Krankheitsbakterien, gegen die es kein immun machendes Gegenmittel gibt. Andere bemühen sich, ein Fahrzeug zu konstruieren, das sich unter der Erde wie ein Unterseeboot unter Wasser fortbewegt, oder ein Flugzeug, das von seinem Stützpunkt so unabhängig ist wie ein Segelschiff. Andere erforschen sogar noch ferner liegende Möglichkeiten, wie zum Beispiel die Sonnenstrahlen in Tausende von Kilometern im Raum entfernt aufgehängten Linsen zu sammeln, oder durch Anzapfen des glühenden Erdinneren künstliche Erdbeben und Flutwellen hervorzurufen.
Aber keines dieser Projekte kommt jemals der Verwirklichung nahe, und keiner der drei Superstaaten erlangt jemals ein bedeutendes Übergewicht über die anderen. Noch bemerkenswerter ist, daß alle drei Mächte in der Atombombe bereits eine weit gewaltigere Waffe besitzen, als einer ihrer derzeitigen Versuche jemals hervorzubringen verspricht. Wenn auch die Partei gemäß ihrer Gewohnheit die Erfindung für sich in Anspruch nimmt, so traten die Atombomben bereits in den Jahren nach 1940 erstmalig in Erscheinung und wurden zum erstenmal in großem Umfang etwa zehn Jahre später angewendet. Zu der Zeit wurden einige hundert Bomben auf Industriezentren, hauptsächlich im europäischen Rußland, Westeuropa und Nordamerika abgeworfen. Die dadurch erzielte
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