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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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zufällig in die Arme lief. »Kann ich Ihren Ausweis sehen, Genosse? Was machen Sie hier? Wann haben Sie Ihren Arbeitsplatz verlassen? Ist das Ihr üblicher Nachhauseweg?« Und so weiter und so weiter. Nicht, daß es eine Verfügung dagegen gegeben hätte, anders als auf dem gewöhnlichen Weg heimzugehen: aber es war, wenn die Gedankenpolizei es erfuhr, schon genug, um die Aufmerksamkeit auf einen zu lenken.
    Plötzlich war die ganze Straße in heller Aufregung. Von allen Seiten ertönten Warnungsschreie.
    Menschen huschten wie Kaninchen in die Hauseingänge. Unmittelbar vor Winston stürzte eine junge Frau aus einem Hauseingang heraus, riß ein winziges, in einer Wasserlache spielendes Kind an sich, wickelte ihre Schürze darum und sprang wieder zurück, alles in einer einzigen Bewegung. Im gleichen Augenblick lief aus einer Seitengasse ein Mann in einem schwarzen Anzug auf Winston zu und zeigte aufgeregt hinauf zum Himmel.
    »Ein Dampfer!« schrie er. »Paß auf, Kumpel! Gleich bumst es. Hau dich hin!«
    »Dampfer« war der Spitzname, mit dem die Proles aus irgendeinem Grunde die Raketenbomben bezeichneten. Winston warf sich rasch mit dem Gesicht nach unten auf die Erde. Die Proles hatten fast immer recht mit solchen Warnungen. Sie schienen eine Art Instinkt zu besitzen, der sie ein paar Sekunden im voraus warnte, daß eine Rakete herannahte, obwohl die Raketengeschosse angeblich schneller waren als der Schall. Winston legte die Arme über den Kopf. Ein Krach ertönte, so daß die Straßendecke zu bersten schien, und ein Hagelschauer von leichten Gegenständen prasselte auf Winstons Rücken herab. Als er aufstand, entdeckte er, daß er mit Glassplittern übersät war, die von dem nächstgelegenen Fenster stammten.
    Er ging weiter. Die Bombe hatte, zweihundert Meter weiter die Straße hinunter, eine Häusergruppe zerstört. Eine schwarze Rauchfahne hing am Himmel, darunter eine Wolke von Mörtelstaub, in der sich bereits, rings um die Trümmer, eine Menschenmenge sammelte. Vor ihm auf dem Pflaster lag ein kleiner Mörtelhaufen, in dessen Mitte er ein hellrotes Rinnsal unterscheiden konnte. Als er näher kam, erkannte er, daß es eine am Handgelenk abgetrennte Menschenhand war. Abgesehen von dem blutigen Stumpf war die Hand so völlig ausgeblutet, daß sie einem weißen Gipsabguß glich.
    Er schleuderte das Ding mit dem Fuß in den Rinnstein und bog dann nach rechts in eine Seitenstraße ab, um aus der Menge herauszukommen. In drei oder vier Minuten hatte er die Gegend mit dem Bombenschaden hinter sich gelassen, und das trübseligschmutzige Gewirr belebter Straßen zog sich weiter, als habe sich nichts Besonderes ereignet. Es war fast zwanzig Uhr, und die von den Proles besuchten Kneipen waren gedrängt voll. Aus ihren abgegriffenen, unablässig auf- und zuschlagenden Klapptüren drang ein Geruch nach Urin, Sägemehl und säuerlichem Bier. In einem Winkel hinter einer vorspringenden Hausfront standen drei Männer dicht beieinander; der mittlere hielt eine aufgeschlagene Zeitung in der Hand, die beiden anderen blickten ihm über die Schultern. Noch bevor er nahe genug herangekommen war, um den Ausdruck ihrer Gesichter zu unterscheiden, erkannte Winston schon an der Körperhaltung ihre 38
    George Orwell – 1984
    Spannung. Offenbar lasen sie eine ungemein wichtige Nachricht. Er war noch ein paar Schritte von ihnen entfernt, als die Gruppe plötzlich auseinander fiel, während zwei der Männer in heftigen Wortwechsel gerieten. Einen Augenblick lang wollte es so aussehen, als sollte es zu einer Schlägerei kommen.
    »Kannst du denn deine Ohren nicht aufmachen, wenn ich dir was sage? Ich sag' dir doch, keine Zahl auf sieben hat jemals gewonnen, seit über vierzehn Monaten.«
    »Aber sicher hat sie gewonnen!«
    »Nein, keine Spur. Zu Hause hab' ich den ganzen Kram seit über zwei Jahren mitgeschrieben. Ich trag'
    die Ergebnisse immer haargenau ein. Und ich sag' dir, keine Zahl mit sieben am Schluß . . .«
    »Und doch hat eine mit sieben gewonnen! Ich kann dir ziemlich genau die Nummer sagen, die letzten Stellen waren vier, null, sieben. Das war im Februar – zweite Februarwoche.«
    »Laß dich einpökeln mit deinem Februar! Ich hab' es alles schwarz auf weiß. Und ich sag' dir, keine Zahl
    . . .«
    »Ach, halt's Maul!« sagte der dritte.
    Sie sprachen über die Lotterie. Als er dreißig Meter weitergegangen war, schaute Winston noch einmal zurück. Sie stritten mit roten, aufgeregten Gesichtern noch immer. Die Lotterie

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