1984
sehr viel älter als ich«, sagte Winston. »Sie müssen schon ein erwachsener Mann gewesen sein, ehe ich geboren wurde.
Sie können sich sicher erinnern, wie es vor der Revolution ausgesehen hat. Menschen in meinem Alter wissen wirklich gar nichts von dieser Zeit. Wir können nur in Büchern davon lesen, und was in den Büchern steht, stimmt vielleicht nicht. Ich wüßte gerne Ihre Meinung darüber. In den Geschichtsbüchern wird behauptet, daß das Leben vor der Revolution vollständig anders gewesen sei als heute. Die schreckliche Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Elend – schlimmer als alles, was wir uns vorstellen können. Hier in London hatte die große Masse des Volkes von der Wiege bis zum Grabe nie genug zu essen. Die Hälfte der Menschen besaß nicht einmal Schuhe an den Füßen. Sie arbeiteten zwölf Stunden am Tag, gingen mit neun Jahren von der Schule ab, schliefen zu zehnt in einem Zimmer. Und gleichzeitig gab es einige wenige, nur ein paar Tausend – Kapitalisten wurden sie genannt –, die reich und mächtig waren. Ihnen gehörte alles, was man nur besitzen konnte. Sie wohnten in großen prächtigen Häusern mit dreißig Dienstboten, fuhren in Automobilen und vierspännigen Wagen umher, tranken Champagner, trugen Zylinderhüte –«
Der alte Mann wurde auf einmal lebendig. »Zylinder!« rief er aus. »Komisch, daß Sie das erwähnen.
Dasselbe fiel mir erst gestern ein, ich weiß nicht, warum. Ich dachte nur eben, daß ich seit Jahren keinen Zylinder mehr gesehen hab'. Einfach von der Bildfläche verschwunden sind sie. Das letzte Mal, daß ich einen auf hatte, war beim Begräbnis meiner Schwägerin. Und das war – nun, ich könnte Ihnen das Datum nicht nennen, aber es muß fünfzig Jahre her sein. Natürlich war er nur für die Gelegenheit ausgeliehen, Sie verstehen.«
»Das mit den Zylindern ist nicht sehr wichtig«, sagte Winston geduldig. »Der springende Punkt ist, daß diese Kapitalisten – zusammen mit ein paar Juristen, Pfarrern und so weiter, die von ihnen lebten – die Herren dieser Erde waren. Alles war für sie da. Die anderen – das einfache Volk der Arbeiter – waren ihre Sklaven. Sie konnten mit ihnen machen, was sie wollten. Sie konnten sie nach Kanada verschiffen wie das liebe Vieh. Sie konnten mit ihren Töchtern schlafen, wenn es ihnen paßte. Sie konnten die Leute mit einem Ding, das die neunschwänzige Katze hieß, auspeitschen lassen. Man mußte vor ihnen die Mütze ziehen.
Jeder Kapitalist ging mit einem Trupp Lakaien umher, die –«
Der alte Mann wurde wiederum lebhafter. »Lakaien!« sagte er. »Das ist auch ein Wort, das ich ewig nicht mehr gehört habe. Lakaien! Das versetzt mich richtig nach damals zurück, doch, bestimmt. Ich erinnere mich – ach, es ist furchtbar lange her –, da ging ich manchmal am Sonntagnachmittag in den Hydepark, um die Brüder ihre Reden schwingen zu hören. Heilsarmee, Katholiken, Juden, Inder – alles war vertreten. Und da war ein Apostel – nee, ich könnte nicht mehr sagen, wie er hieß, aber ein wirklich mitreißender Redner, ja, mitreißend, das war er. Er besorgte es den Burschen nicht schlecht. ›Lakaien‹, sagte er, ›Lakaien der Bourgeoisie! Speichellecker der herrschenden Klasse!‹ Parasiten – das war ein anderes Lieblingswort von ihm. Und Hyänen – er hat sie ohne weiteres Hyänen genannt. Er sprach natürlich von der Labour-Partei, verstehen Sie.«
Winston hatte das Gefühl, daß sie aneinander vorbeiredeten.
»Was ich wirklich wissen wollte«, sagte er, »war, ob Sie das Gefühl haben, daß jetzt mehr Freiheit herrscht als in jenen Zeiten? Werden Sie mehr wie ein Mensch behandelt? In den alten Zeiten waren die Reichen, die Leute an der Spitze –«
»Das Oberhaus«, warf der alte Mann aus seiner Erinnerung in die Debatte.
»Das Oberhaus, wenn Sie so wollen. Was ich nun gerne wissen möchte: Waren diese Leute imstande, einen deshalb als Tieferstehenden zu behandeln, einfach, weil sie reich waren und man selber arm? Ist es zum Beispiel Tatsache, daß man sie mit ›Gnädiger Herr‹ anreden und die Mütze abnehmen mußte, wenn man an ihnen vorüberkam?«
Der alte Mann schien angestrengt nachzudenken. Er trank erst ungefähr ein Viertel seines Bieres aus, ehe er antwortete:
»Ja«, sagte er, »sie sahen es gerne, wenn man vor ihnen an die Mütze griff. Das verriet so was wie Respekt. Mir behagte das persönlich auch nicht, aber ich hab's nur zu oft getan. Man mußte eben, wie man wohl sagen
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