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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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mit ihren wöchentlichen Auszahlungen riesiger Gewinne war das einzige öffentliche Ereignis, dem die Proles ernstliche Aufmerksamkeit schenkten. Man durfte annehmen, daß im Leben von etlichen Millionen Proles die Lotterie den hauptsächlichen, wenn nicht den einzigen Inhalt bildete. Sie war ihre Lust, ihr Steckenpferd, ihr Trost, ihr geistiger Ansporn. Sobald es sich um die Lotterie handelte, schienen sogar Leute, die kaum lesen und schreiben konnten, zu verzwickten Berechnungen und erstaunlichen Gedächtnisleistungen fähig. Eine ganze Kategorie von Menschen verdiente ihren Lebensunterhalt lediglich durch den Verkauf von Systemen, Vorhersagen und Glücksfetischen. Winston hatte selbst nichts mit der Abwicklung der Lotterie zu tun, die dem Ministerium für Überfluß unterstand, aber er wußte sehr wohl (in der Partei wußte es jedermann), daß die Gewinne größtenteils nur auf dem Papier standen. Nur kleine Beträge wurden wirklich ausbezahlt, während die Gewinner der Haupttreffer frei erfundene Personen waren. Da es zwischen den einzelnen Teilen Ozeaniens keine funktionierenden Verbindungsmöglichkeiten gab, war das unschwer einzurichten.
    Und doch, wenn es eine Hoffnung gab, so lag sie bei den Proles. Daran mußte man festhalten. In Worten ausgedrückt klang es vernünftig; sah man aber die Menschen an, denen man auf der Straße begegnete, dann wurde es zu einer Frage des Glaubens. Die Straße, in die er eingebogen war, führte den Hügel hinunter. Es kam ihm vor, als sei er schon einmal in dieser Gegend gewesen und als müsse nicht weit entfernt eine Hauptverkehrsader vorbeigehen. Aus dem Ungewissen vor ihm drang der Lärm lauter Stimmen. Die Straße machte eine Biegung und lief dann in einigen Stufen aus, die zu einer engen Gasse hinunterführten, in der auf ein paar Verkaufsständen welkes Gemüse feilgeboten wurde. In diesem Augenblick erinnerte sich Winston, wo er war. Die Gasse mündete in eine Hauptstraße, und nach der nächsten Biegung, keine fünf Minuten entfernt, kam der Altwarenladen, in dem er das Buch mit den unbeschriebenen Seiten gekauft hatte, das nun sein Tagebuch war. Und in einem kleinen Papierwarengeschäft nicht weit von hier hatte er seinen Federhalter und die Flasche Tinte erstanden.
    Er blieb einen Augenblick am oberen Ende der Stufen stehen. Auf der anderen Seite der Gasse war eine schäbige kleine Kneipe, deren Fenster wie vereist aussahen, während sie in Wirklichkeit nur dick mit Staub überkrustet waren. Ein uralter Mann, vornüber gebeugt, aber noch rüstig, mit einem weißen Schnurrbart, der sich wie die Rückenflosse eines Stichlings sträubte, stieß die Schwingtür auf und ging hinein. Während Winston beobachtend dastand, ging ihm durch den Sinn, daß der alte Mann, der wenigstens achtzig Jahre alt sein mußte, bei Ausbruch der Revolution schon in den besten Mannesjahren gestanden hatte. Er und ein paar Leute seiner Generation waren die letzten noch lebenden Bindeglieder zu der verschwundenen Welt des Kapitalismus. In der Partei waren nicht mehr viele Menschen übrig, deren Weltanschauung vor der Revolution geformt worden war. Die ältere Generation war meistenteils bei den großen Säuberungsaktionen der 1950er und 60er Jahre beseitigt worden, und die paar Überlebenden waren längst zu völliger geistiger Unterwerfung terrorisiert worden. Wenn es noch einen lebendigen Menschen gab, der imstande war, einem einen wahrheitsgetreuen Bericht von den Verhältnissen in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu geben, so konnte das nur ein Proles sein. Plötzlich fiel Winston wieder die Stelle ein, die er aus dem Geschichtsbuch in sein Tagebuch übertragen hatte, und ein toller Impuls ergriff von ihm Besitz. Er würde in die Kneipe gehen, mit dem alten Mann Bekanntschaft schließen und ihn ausfragen. Er würde zu ihm sagen: »Erzählen Sie mir von Ihrem Leben, aus Ihrer Kindheit. Wie sah es damals aus? War alles besser als heute – oder war es vielleicht schlechter?«
    Rasch, um erst gar keine Angst aufkommen zu lassen, stieg er die Stufen hinunter und überquerte die 39
    George Orwell – 1984
    schmale Gasse. Es war natürlich einfach Wahnsinn. Wie gewöhnlich, gab es kein ausdrückliches Verbot, mit den Proles zu sprechen und ihre Kneipen aufzusuchen, aber es war ein viel zu ungewöhnliches Verhalten, um unbemerkt zu bleiben. Wenn eine Streife erschien, konnte er vielleicht einen Anfall von Unwohlsein vorschützen, aber es war nicht wahrscheinlich, daß man ihm glauben würde. Er

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