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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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stieß die Tür auf, und ein fürchterlicher, käsiger Geruch nach saurem Bier schlug ihm entgegen. Bei seinem Eintritt sank das Stimmengewirr auf etwa eine halbe Lautstärke herab. Hinter seinem Rücken konnte er fühlen, wie jedermann seinen blauen Trainingsanzug anstarrte. Eine Partie Pfeilwerfen, die am anderen Ende des Lokals im Gange war, kam gute dreißig Sekunden zum Stillstand. Der alte Mann, dem er nachgegangen war, stand an der Theke und war in einen Wortwechsel mit dem Wirt verwickelt, einem stämmigen, hakennasigen jungen Mann mit ungeheuren Unterarmen. Eine Gruppe von Leuten, die mit ihren Gläsern in der Hand dastanden, beobachtete die Szene.
    »Ich hab' Sie höflich genug gebeten, oder vielleicht nicht?« sagte der alte Mann, wobei er kampflustig seine Schultern reckte. »Und Sie wollen mir weismachen, Sie hätten keine Pinte in der ganzen elenden Bude?«
    »Wieviel, zum Teufel, ist überhaupt eine Pinte?« sagte der Wirt, indem er sich, auf die Fingerspitzen gestützt, weit über die Theke beugte.
    »Hört euch das an! So was schimpft sich Wirt und weiß nicht einmal, was eine Pinte ist! Eine Pinte ist die Hälfte von einem Viertel, und vier Viertel sind eine Gallone. Nächstens muß ich Ihnen noch das Abc beibringen.«
    »Noch nie davon gehört«, sagte der Wirt kurz angebunden. »Liter und Halbliter, das ist alles, was wir ausschenken. Dort, vor Ihnen auf dem Bord, stehen die Gläser.«
    »Ich möchte eine Pinte«, sagte der alte Mann beharrlich. »Sie könnten mir genauso gut eine Pinte einschenken. Wir kannten diese blöden Liter nicht, als ich ein junger Mann war.«
    »Als Sie ein junger Mann waren, lebten wir alle noch auf den Bäumen«, sagte der Wirt mit einem Seitenblick auf die Gäste.
    Eine Lachsalve brach los, und die durch Winstons Eintritt verursachte Verlegenheit schien überwunden.
    Das mit weißen Bartstoppeln übersäte Gesicht des alten Mannes war leicht gerötet. Vor sich hinbrabbelnd wandte er sich von der Theke weg und prallte gegen Winston. Dieser fing ihn sanft am Arm auf.
    »Darf ich Sie zu einem Glas einladen?« fragte er.
    »Sie sind ein Gentleman«, sagte der andere und reckte wieder seine Schultern. Er schien Winstons blauen Trainingsanzug nicht bemerkt zu haben. »Eine Pinte!« fügte er angriffslustig an den Schenkkellner hinzu. »Eine Pinte Dunkles.«
    Der Wirt ließ zwei Halbliter dunkelbraunes Bier in dicke Gläser zischen, die er in einem Eimer unter der Theke ausgespült hatte. Bier war das einzige Getränk, das man in den Proles-Kneipen bekommen konnte.
    Die Proles sollten keinen Gin trinken, wenn sie ihn sich auch praktisch recht leicht beschaffen konnten. Das Pfeilwerfen war jetzt wieder voll im Gange, und die Menschengruppe an der Theke hatte über Lotterielose zu sprechen begonnen. Winstons Anwesenheit war für eine Weile vergessen. Unter dem Fenster stand ein kleiner Abstelltisch, wo er und der alte Mann, ohne Furcht, belauscht zu werden, plaudern konnten. Es war schrecklich gefährlich, aber auf alle Fälle war kein Televisor in dem Lokal, eine Tatsache, deren sich Winston gleich beim Hereinkommen vergewissert hatte.
    »Er hätte mir ruhig eine Pinte einschenken können«, brummte der alte Mann, während er hinter seinem Glase Platz nahm. »So ist es mir zuwenig. Und ein ganzer Liter ist wieder zuviel. Er schlägt mir auf die Blase.
    Ganz abgesehen vom Preis.«
    »Seit Sie ein junger Mann waren, müssen Sie große Veränderungen erlebt haben«, sagte Winston, um erst einmal vorzufühlen.
    Die blaßblauen Augen des alten Mannes wanderten von der Scheibe der Pfeilwerfer zur Theke und von der Theke zu der Tür mit der Aufschrift »Männer«, als wäre von den Veränderungen die Rede, die sich in der Wirtsstube vollzogen hatten.
    »Das Bier war besser«, sagte er schließlich. »Und billiger! Als ich ein junger Mann war, kostete das Bier –
    Braunbier pflegten wir es zu nennen – vier Pence die Pinte. Das war freilich vor dem Krieg.«
    »Welcher Krieg war das?« fragte Winston.
    »Ein Krieg ist wie der andere«, sagte der alte Mann verschwommen. Er hob sein Glas, und seine 40
    George Orwell – 1984
    Schultern reckten sich wieder. »Auf Ihr Wohl!«
    Der scharf vorspringende Adamsapfel an seinem mageren Hals machte eine erstaunlich schnelle Bewegung auf und ab, und das Bier war verschwunden. Winston ging an die Theke und kam mit zwei weiteren Halblitergläsern zurück. Der alte Mann schien seine Bedenken gegen den ganzen Liter vergessen zu haben.
    »Sie sind

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