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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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würde.«
    41
    George Orwell – 1984
    »Und war es üblich – ich führe nur das an, was ich in Geschichtsbüchern gelesen habe –, war es bei diesen Leuten und ihren Bedienten üblich, einen vom Bürgersteig einfach herunter in den Rinnstein zu stoßen?«
    »Einer von ihnen hat mich einmal gestoßen«, sagte der alte Mann. »Ich erinnere mich noch daran, als wäre es gestern gewesen. Es war am Abend nach einer Ruderregatta – die Leute waren immer ganz außer Rand und Band, am Abend nach einer Ruderregatta –, und ich renne auf der Shaftesbury Avenue in einen jungen Burschen hinein. Der war ein richtig feiner Herr – steifes Hemd, Zylinder, schwarzer Mantel. Er schwankte im Zickzack übern Gehsteig, und ich bumse aus Versehen gegen ihn. Sagt er: ›Können Sie nicht aufpassen, wo Sie gehen?‹ sagt er. Sag' ich: ›Glauben Sie, Sie haben das verdammte Trottoir allein gepachtet?‹ Sagt er: ›Ich dreh' dir den Kragen um, wenn du frech wirst.‹ Sag' ich: ›Sie sind besoffen. Gleich melde ich Sie der Polizei.‹ Und wollen Sie mir's glauben oder nicht, er legt mir die Hand auf die Brust und gibt mir einen Stoß, daß ich um ein Haar unter einen Bus geflogen wäre. Na, ich war damals noch jung und wollte ihm gerade eine langen, da . . .«
    Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam Winston. Die Erinnerung des alten Mannes war weiter nichts als ein Kehrichthaufen von Einzelheiten. Man hätte ihn den ganzen Tag ausfragen können, ohne eine einzige vernünftige Auskunft zu bekommen. Die Geschichtsdarstellungen der Partei konnten zur Hälfte wahr sein; ja, sie konnten sogar vollkommen wahr sein. Er machte einen letzten Versuch.
    »Vielleicht habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt«, meinte er. »Was ich sagen wollte, ist folgendes: Sie sind schon lange auf dieser Welt. Sie haben die Hälfte Ihres Lebens vor der Revolution gelebt. Im Jahre 1925
    zum Beispiel waren Sie schon erwachsen. Würden Sie nach dem, woran Sie sich noch erinnern können, sagen, daß das Leben 1925 besser oder schlechter war als heute?
    Wenn Sie wählen könnten, würden Sie lieber damals als heute leben wollen?«
    Der alte Mann blickte nachdenklich auf die Zielscheibe des Wurfspiels. Bedächtiger als zuvor trank er sein Bier aus. Dann sprach er mit einem duldsamen, philosophischen Ausdruck im Gesicht, als habe ihn das Bier milde gestimmt.
    »Ich weiß, was Sie von mir erwarten. Sie wollen hören, daß ich lieber wieder jung wäre. Die meisten Menschen würden antworten, wenn man sie fragt, sie wären lieber wieder jung. Man ist bei Kräften und Gesundheit, wenn man jung ist. Wenn man in mein Alter kommt, ist man nie mehr so ganz in Form. Ich habe manchmal bös an meinen kranken Füßen zu leiden, und meine Blase macht mir furchtbar zu schaffen.
    Sechs- oder siebenmal in der Nacht muß ich raus. Andererseits sind da wieder große Vorteile, wenn man ein alter Mann ist. Man hat nicht mehr dieselben Sorgen. Kein Ärger mit den Weibern, das ist schon sehr viel wert. Ich war fast dreißig Jahre mit keiner Frau mehr zusammen, ob Sie's glauben oder nicht. Hatte kein Verlangen danach, das ist das Beste daran.«
    Winston lehnte sich gegen den Fenstersims zurück. Es hatte keinen Zweck, weiterzumachen. Er wollte gerade noch einmal Bier bestellen, als der alte Mann plötzlich aufstand und hastig in das stinkende Pissoir in der Ecke des Lokals schlurfte. Der zusätzliche halbe Liter machte sich bemerkbar. Winston saß noch ein paar Minuten da und starrte in sein leeres Glas. Kaum wurde er sich bewußt, daß ihn seine Füße wieder hinaus auf die Straße trugen. In höchstens zwanzig Jahren, überlegte er, würde die große und einfache Frage:
    »War das Leben vor der Revolution besser als heute?« ein für allemal unbeantwortet bleiben müssen. Im Grunde war sie bereits heute nicht mehr zu beantworten, da die paar verstreuten Überlebenden der alten Welt nicht imstande waren, das eine Zeitalter mit dem anderen zu vergleichen. Sie erinnerten sich wohl einer Unzahl bedeutungsloser Dinge, an den Streit mit einem Arbeitskollegen, die Suche nach einer verlorenen Fahrradpumpe, den Ausdruck auf dem Gesicht einer längst verstorbenen Schwester, die Staubwirbel an einem windigen Morgen vor siebzig Jahren: aber alle wirklich aufschlußreichen Tatsachen waren ihrem Gesichtskreis entschwunden. Sie waren wie die Ameisen, die wohl kleine, aber keine großen Gegenstände erkennen können. Und wenn es keine Erinnerung mehr gab und alle schriftlichen Berichte gefälscht

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