1984
herauslöste.
Aber er blieb noch ein paar Minuten und unterhielt sich mit dem alten Mann, der übrigens, wie er herausfand, nicht Weeks hieß, wie man nach der Aufschrift auf dem Ladenschild hätte annehmen können, sondern Charrington. Herr Charrington, stellte sich heraus, war ein Witwer von dreiundsechzig und hatte dreißig Jahre lang in diesem Laden gewohnt. Diese ganze Zeit über hatte er die Absicht gehabt, den Namen über dem Schaufenster zu ändern, war aber doch nie dazu gekommen. Wahrend ihrer ganzen Unterhaltung wollte Winston der nur halb erinnerte Kinderreim nicht aus dem Kopf gehen. Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's. You owe me three farthings, say the bells of St. Martin's! Es war seltsam: wenn man es vor sich hinsagte, hatte man die Illusion, tatsächlich Glocken läuten zu hören, die Glocken eines verschollenen Londons, das doch noch da oder dort, ganz entstellt und vergessen, vorhanden war. Von einem geisterhaften Kirchturm nach dem ändern glaubte er das Geläut zu hören. Dabei hatte er, soviel er sich erinnern konnte, in Wirklichkeit noch nie im Leben Kirchenglocken läuten hören.
Er verabschiedete sich von Herrn Charrington und stieg allein die Treppe hinunter, um den alten Mann nicht merken zu lassen, daß er erst einen forschenden Blick auf die Straße warf, ehe er aus der Tür trat. Er hatte innerlich bereits beschlossen, nach einer entsprechenden Wartezeit – vielleicht nach einem Monat –
das Risiko auf sich zu nehmen und den Laden nochmals zu besuchen. Es war vielleicht nicht gefährlicher, als einen Gemeinschaftsabend zu schwänzen. Die eigentliche Tollkühnheit war gewesen, überhaupt noch einmal hierher zu kommen, nachdem er das Diarium gekauft hatte und nicht wissen konnte, ob man dem Ladeneigentümer trauen durfte. Aber sei's drum –!
Ja, er dachte noch einmal, er würde wiederkommen. Er würde andere Reste von schönem Tand kaufen.
45
George Orwell – 1984
Er würde den Stich von St. Clement's Dane erstehen, ihn aus dem Rahmen nehmen und unter der Bluse eines Trainingsanzugs versteckt nach Hause tragen. Er würde auch noch die übrigen Strophen dieses Kinderreims aus Herrn Charringtons Gedächtnis herauslocken. Sogar der wahnwitzige Plan, das Zimmer im Obergeschoß zu mieten, durchzuckte für einen Augenblick seinen Kopf. Fünf Sekunden lang vielleicht machte ihn seine Hochstimmung unvorsichtig, und er trat, ohne auch nur vorher zur Sicherung einen Blick durchs Fenster zu werfen, hinaus auf die Straße. Er hatte sogar zu einer improvisierten Melodie zu summen angefangen:
»Oranges and lemons,
Say the bells of St. Clement's,
You owe me three farthings,
Say the –«
Plötzlich erstarrte sein Herz zu Eis, und seine Knie wurden wachsweich. Eine Gestalt im blauen Trainingsanzug kam ihm, keine zehn Meter entfernt, auf der Straße entgegen. Es war das Mädchen der Literaturabteilung, das Mädchen mit dem dunklen Haar. Die Beleuchtung war schlecht, aber er konnte sie ohne weiteres erkennen. Sie blickte ihm gerade ins Gesicht und ging dann rasch weiter, als habe sie ihn nicht bemerkt.
Ein paar Sekunden war Winston wie gelähmt und konnte keinen Fuß vor den anderen setzen. Dann bog er nach rechts ab und schritt rasch aus, ohne im ersten Augenblick zu merken, daß er in der verkehrten Richtung ging. Eines stand jedenfalls fest. Es gab keinen Zweifel mehr, daß das Mädchen ihm nachspionierte. Sie mußte ihn verfolgt haben, denn es war nicht glaubhaft, daß sie aus reinem Zufall am selben Abend durch dieselbe obskure Hintergasse kam, kilometerweit von allen Vierteln entfernt, in denen Parteimitglieder wohnten. Es wäre ein zu großer Zufall gewesen. Ob sie wirklich eine Agentin der Gedankenpolizei oder lediglich ein von übertriebenem Diensteifer inspirierter Amateur-Spitzel war, blieb sich so ziemlich gleich. Es genügte, daß sie ihn beobachtete. Vermutlich hatte sie ihn auch in die Kneipe hineingehen sehen.
Ihm wurde das Gehen schwer. Der gläserne Gegenstand in seiner Tasche schlug bei jedem Schritt an seine Hüfte, und er dachte halb und halb daran, ihn herauszuziehen und wegzuwerfen. Das Schlimmste waren seine Leibschmerzen. Ein paar Augenblicke lang hatte er das Gefühl, er würde sterben, wenn er nicht bald eine Toilette erreichte. Doch in einem solchen Viertel gab es wohl keine öffentlichen Bedürfnisanstalten. Dann lösten sich die Krämpfe und ließen nur einen dumpfen Schmerz zurück.
Die Straße war eine Sackgasse. Winston blieb stehen und
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