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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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aufgeklappt benützen wollen.«
    In der anderen Ecke stand ein kleines Bücherregal, auf das Winston bereits losgesteuert war. Es enthielt nichts als Schund. Das Auskämmen und Vernichten der Bücher war in den Proles-Vierteln mit der gleichen Gründlichkeit wie in allen anderen besorgt worden. Es war höchst unwahrscheinlich, daß es irgendwo in Ozeanien noch ein Exemplar eines vor 1960 gedruckten Buches gab. Noch immer die Lampe in den Händen, stand der alte Mann vor einem Bild in einem Rosenholzrahmen, das auf der anderen Seite des Kamins hing, dem Bett gegenüber.
    »Falls Sie zufällig Interesse an alten Stichen haben sollten«, fing er vorsichtig an.
    Winston trat näher, um das Bild genauer zu betrachten. Es war der Stahlstich eines ovalen Gebäudes mit rechtwinkeligen Fenstern und einem kleinen Turm in der Mitte. Ein Eisengitter lief um das ganze Gebäude, und im Hintergrund war offenbar eine Art Standbild. Winston betrachtete es einige Augenblicke. Es kam ihm irgendwie bekannt vor, wenn er sich auch an das Standbild nicht erinnern konnte.
    »Der Rahmen ist an der Wand befestigt«, sagte der alte Mann, »aber ich kann ihn losschrauben.«
    »Ich kenne das Gebäude«, sagte Winston schließlich. »Es ist heute eine Ruine. Es steht mitten auf der Straße vor dem Justizpalast.«
    »Stimmt. Beim Großen Gerichtshof. Es wurde zerbombt im Jahre – ach, vor vielen Jahren. Es ist einmal eine Kirche gewesen. St. Clement's Dane hieß sie.« Er lächelte, wie um Verzeihung heischend, als sei er sich bewußt, etwas leicht Lächerliches zu sagen, und fügte hinzu: »Oranges and lemons, say the bells of St.
    Clement's!«
    »Was soll das bedeuten?« fragte Winston.
    »Ei nun – ›Oranges and lemons, say the bells of St. Clement's‹. Das war ein Abzählreim, den wir sangen, als 44
    George Orwell – 1984
    ich noch ein kleiner Junge war. Wie er weitergeht, erinnere ich mich nicht. Ich weiß nur, daß es am Schluß heißt: ›Here comes a candle to light you to bed, here comes a chopper to chop off your head.‹ Es war so eine Art Ringelreihen. Die Kinder hielten die Arme hoch, damit man drunter durchgehen konnte, und wenn man zu
    ›Here comes a chopper to chop off your head‹ kam, ließen sie die Arme sinken, und man war gefangen. Es waren lauter Namen von Kirchen. Alle Londoner Kirchen kamen drin vor – die bekanntesten, meine ich.«
    Winston fragte sich, aus welchem Jahrhundert die Kirche stammte. Es war immer schwierig, das Zeitalter eines Londoner Gebäudes zu bestimmen. Alles Große und Eindrucksvolle wurde, wenn es einigermaßen neu aussah, automatisch als ein Neubau der Revolution in Anspruch genommen, während alles, was offenkundig früheren Datums war, einer dunklen und unbestimmten Epoche zugeschrieben wurde, die man als Mittelalter bezeichnete. Von den Jahrhunderten des Kapitalismus wurde so getan, als hätten sie nichts von irgendwelchem Wert hervorgebracht. Von der Architektur konnte man ebenso wenig Geschichte ablesen wie aus den Büchern. Statuen, Inschriften, Denkmäler, Straßennamen – alles, was Licht auf die Vergangenheit werfen konnte, war systematisch abgeändert worden.
    »Ich wußte gar nicht, daß es eine Kirche war«, sagte Winston.
    »Es stehen in Wirklichkeit noch eine ganze Menge Kirchen«,
    sagte der alte Mann, »wenn sie auch anderen Zwecken zugeführt wurden. Wie ging doch jetzt gleich dieser Reim weiter? Ach, ich hab's!
    ›Oranges and lemons,
    Say the bells of St. Clement's,
    You owe me three farthings,
    Say the bells of St. Martins . . .‹
    Sehen Sie, soweit bringe ich's zusammen. Ein Farthing war eine kleine Kupfermünze, ungefähr wie ein Cent.«
    »Wo stand St. Martin's?« fragte Winston.
    »St. Martin's? Es steht noch. Am Victory-Square, neben der Bildergalerie. Ein Gebäude mit einer Art dreieckiger Vorhalle, einem Säulenvorbau und großen, breiten Stufen, die hinaufführen.«
    Winston kannte das Gebäude gut. Es war ein Museum für die Ausstellung von verschiedenartigem Propagandamaterial: von verkleinerten Modellen von Raketengeschossen, Schwimmenden Festungen, Wachsnachbildungen feindlicher Greueltaten und dergleichen.
    »St. Martin's in the Fields wurde die Kirche damals immer genannt«, ergänzte der alte Mann, »obwohl ich mich an keine Felder in dieser Gegend erinnern kann.«
    Winston kaufte das Bild nicht. Es wäre als Besitztum sogar noch belastender gewesen als der gläserne Briefbeschwerer und unmöglich nach Hause zu tragen, wenn man es nicht aus dem Rahmen

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