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1984

1984

Titel: 1984 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Orwell
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überlegte ein paar Sekunden unschlüssig, was er tun sollte. Dann kehrte er um und ging den Weg zurück. Im Kehrtmachen fiel ihm ein, daß das Mädchen erst vor drei Minuten an ihm vorbeigekommen war und er sie laufend vermutlich einholen konnte. Er konnte sich an ihre Fersen heften, bis sie eine verlassene Gegend erreicht hatten, und ihr dann mit einem Pflasterstein den Schädel einschlagen. Der Glasgegenstand in seiner Tasche war schwer genug dazu. Aber er ließ diese Idee sofort wieder fallen, denn schon der Gedanke an irgendeine körperliche Anstrengung war ihm unerträglich. Er brachte es einfach nicht fertig, zu laufen und zu einem Schlag auszuholen. Außerdem war sie jung und kräftig und würde sich verteidigen. Er dachte auch daran, noch zum Gemeinschaftshaus zu eilen und dort bis zur Sperrstunde zu bleiben, um sich wenigstens ein teilweises Alibi für den Abend zu verschaffen. Aber auch das war unmöglich. Eine tödliche Ermattung hatte sich seiner bemächtigt. Er wollte nichts weiter als nach Hause gehen, sich hinsetzen und ausruhen.
    Es war nach zweiundzwanzig Uhr, als er seine Wohnung erreichte. Um dreiundzwanzig Uhr dreißig würde der Lichtstrom von der Hauptleitung her abgeschaltet werden. Er ging in die Küche und goß fast eine ganze Teetasse voll Victory-Gin hinunter. Dann ging er zu dem Tisch in der Nische, setzte sich und zog das Tagebuch aus der Schublade. Aber er schlug es nicht sofort auf. Aus dem Televisor kreischte eine blecherne Frauenstimme ein patriotisches Lied. Er saß da und starrte, in dem Versuch, die Stimme aus seinem Bewußtsein auszuschalten, den marmorierten Buchdeckel an.
    Nachts holten sie einen, immer in der Nacht. Das Richtige war, sich umzubringen, ehe sie einen abholten. Zweifellos gab es Menschen, die das taten. Viele Fälle von Verschwinden waren in Wirklichkeit Selbstmorde. Aber man brauchte den Mut der Verzweiflung, um sich in einer Welt, in der Feuerwaffen oder ein rasch wirkendes Gift vollkommen unmöglich zu beschaffen waren, selbst zu töten. Er dachte mit Staunen an die biologische Sinnlosigkeit von Schmerz und Angst, an den erbärmlichen Verrat des menschlichen Körpers, der immer genau in dem Augenblick in Schwäche verfällt, in dem man von ihm eine besondere Anstrengung benötigt. Er hätte das dunkelhaarige Mädchen zum Schweigen bringen können, wenn er nur rasch genug gehandelt hätte, aber gerade infolge der Größe der ihm drohenden Gefahr hatte 46
    George Orwell – 1984
    er die Fähigkeit zum Handeln verloren. Es kam ihm zu Bewußtsein, daß man in Momenten höchster Gefahr nie gegen einen von außen kommenden Feind ankämpft, sondern immer nur gegen den eigenen Körper.
    Sogar jetzt, trotz des Gins, machte der dumpfbohrende Schmerz in seinem Bauch ein zusammenhängendes Denken unmöglich. Und in allen scheinbar heldischen oder tragischen Lagen, erkannte er, ist es das gleiche.
    Auf dem Schlachtfeld, in der Folterkammer, auf einem untergehenden Schiff werden die entscheidenden Dinge, um derentwillen man kämpft, immer vergessen, weil der Körper sich vordrängt, bis er die ganze Welt ausfüllt. Und selbst wenn man nicht vor Angst gelähmt ist oder nicht vor Schmerz aufschreit, ist das Leben immer ein Kampf, von einem Augenblick zum ändern, gegen Hunger oder Kälte oder Schlaflosigkeit, gegen einen verdorbenen Magen oder einen schmerzenden Zahn.
    Er schlug sein Tagebuch auf. Es war wichtig, jetzt etwas niederzuschreiben. Die Frau im Televisor hatte ein neues Lied angestimmt. Ihre Stimme schien sein Gehirn wie zackige Glassplitter zu durchbohren. Er versuchte an O'Brien zu denken, für den, an den er sein Tagebuch geschrieben hatte, aber statt dessen begann er darüber nachzudenken, was mit ihm geschehen würde, nachdem ihn die Gedankenpolizei abgeführt hatte. Es wäre ja nicht so schlimm, wenn sie einen gleich umbrächten. Man war darauf gefaßt, getötet zu werden. Aber vor dem Tod (niemand sprach von diesen Dingen, und doch wußte sie jeder) kam erst das unvermeidliche Erpressen von Geständnissen: das Herumkriechen auf dem Boden und das Um-Gnade-Flehen, das Krachen zermalmter Knochen – die eingeschlagenen Zähne und die blutigen Haarbüschel. Warum mußte man das durchmachen, da doch das Ende immer das gleiche war? Warum war es nicht möglich, ein paar Tage oder Wochen aus seinem Leben einfach zu streichen? Niemand entging jemals der Entdeckung, und niemand hatte je verfehlt, ein Bekenntnis abzulegen. Hatte man erst einmal ein Gedankenverbrechen

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