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1992 Das Theunissen-Testament (SM)

1992 Das Theunissen-Testament (SM)

Titel: 1992 Das Theunissen-Testament (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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oft hatte er als Kind solche Wege durchs Watt gemacht, zusammen mit John! Sie waren auf der Suche nach Treibholz gewesen, um es stolz nach Hause zu tragen und dem Großvater abzuliefern. Es wurde getrocknet und später für Herd und Öfen verwendet. Sie hatten den Großvater immer für einen der reichsten Bauern weit und breit gehalten, und darum waren sie überrascht gewesen, als er sie zum erstenmal auf das Treibholz hingewiesen hatte. »Wenn ihr es seht«, hatte er gesagt, »so hebt es auf und bringt es her. Was das Meer uns schenkt, brauchen wir nicht zu kaufen.«
    Linker Hand war der Leuchtturm von Westerhever. Wie schon am Morgen, rührte das alte Gemäuer ihn auch jetzt an. Es gehörte zu den abertausend Türmen, die über die Erde verteilt waren, damit sie mit ihren Signalen den Schiffen den Weg wiesen, auch den Theunissen-Schiffen.
    Knöcheltief stand er nun im Wasser, sah den quirligen Kräuselwellen zu, die der nordwestliche Wind herantrieb. Doch plötzlich sah er noch etwas anderes, und wie er es als Kind viele Male erlebt hatte, schlug sein Herz höher. Das ist ein Riesenbalken, dachte er, und ich werde ihn nach Hause schleppen, werde ihn zwar nicht Großvater, aber Georgine zu Füßen legen und ihr sagen. Damit du Feuerholz hast, das uns keinen Pfennig kostet! Er verfolgte das dunkle Treibgut, das sich im Wasser wiegte und näherkam. Wenn der Balken mir zu schwer ist, dachte er, muß ich das Auto holen, aber viel lieber möchte ich ihn nach Hause tragen. Ich werde ihn, nachdem ich ihn Georgine gezeigt hab’, vor dem Stall auf das Kopfsteinpflaster legen, damit Wind und Sonne ihn trocknen können.
    Das Ding kam näher und sah plötzlich nicht mehr aus wie ein Balken, eher wie ein großer Placken Tang, der jetzt, weil eine stärkere Welle gekommen war, sogar unterging. Doch gleich darauf war er wieder da, trieb weiter auf ihn zu. Nein, ein Balken ist das nicht. Aber es ist auch keine Insel aus Tang. Vielleicht ein Schaf? Nein, es ist größer. Eine Färse? Wie viele Tiere sind an dieser Küste schon ertrunken! Wohl doch keine Färse. In letzter Zeit hat es keine Sturmflut gegeben. Es drehte sich ein Stück herum, und da sah er die Hand. Eine Welle machte, daß sie kurz in die Höhe ging, zurückfiel und auspendelte.
    Er lief, lief so schnell, wie die klobigen Stiefel und der weiche Schlickboden es ihm erlaubten, und mit jedem Schritt, den er näher kam, traten die Konturen deutlicher hervor. Kein Zweifel, ein menschlicher Körper. Und da war sie wieder, die Hand, trieb an der Oberfläche, ein Spielzeug der Wellen. Eine Frauenhand, dachte er, weil sie so schmal und zart und bleich aussieht. Aber dann – er war auf zwei Meter herangekommen – schien es von der Kleidung her doch keine Frau zu sein. Ein Schritt nur noch. Er tat ihn, und dann ging er in die Knie, weil für einen Moment die Kräfte ihn verließen.
    Er nahm den Kopf in die Hände, strich ein paar Haarsträhnen aus der Stirn, beugte sich hinab, drückte sein Gesicht gegen die erstarrten Züge. »Aber du hattest doch keine Schuld!« stammelte er und spürte, wie die Tränen ihm aus den Augen schossen. »Du hattest doch keine Schuld!«
    Die Kälte meldete sich abrupt, schnitt sich ihm in den Leib und in die Beine. Er stand auf, hob den Toten empor, schaffte es, ihn über die Schulter zu legen. Dann ging er, ging auf den Deich zu.

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