1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)
sie erhielten ohnehin kaum Post. Dann und wann, meistens zum Wochenende, kam ein Brief von der Mutter, der diesmal natürlich fehlte. Dafür trugen sie jetzt ganz andere Beweise der mütterlichen Zuwendung nach oben. Ihre Koffer waren gefüllt mit frisch gewaschener und gebügelter Wäsche sowie mit Lebensmitteln, zu denen zwei große Topfkuchen ebenso gehörten wie etliche Plastiktüten mit Äpfeln, Birnen und Pflaumen aus dem Garten der Tante.
Als sie im fünften Stock angekommen waren und schnaufend die schweren Gepäckstücke neben den raumgreifenden irdenen Pflanzenkübeln abgesetzt hatten, öffnete sich die Tür ihres Wohnungsnachbarn. Der Araber Yussuf trat auf den Flur hinaus, begrüßte die beiden, und dann kam es wie ein Rapport von seinen Lippen:
»Diebe waren unten bei Frau Weigand. Haben alles gewühlt und Geld und Ringe und Silbermesser und Löffel genommen und Schrank aufgebrochen. Hat Frau Weigand geweint, als sie nach Haus gekommen.«
»Und ihr Hund?« fragte Oswald. »Hat der nicht gebellt oder zugebissen?«
»War auch ausgegangen. Mit Frau Weigand. Polizei kam abends und waren auch bei mir zu fragen, ob ich Diebe gesehen. Hab ich nicht. Polizei meinen, Zigeuner, aber noch klein. Familie schicken die Kinder zum Stehlen, und wenn Polizei macht schnapp, kann nicht bestrafen, weil zu klein, weil erst vierzehn Jahre haben oder so. Und die Eltern sagen. Wir nichts wissen.«
»Arme Frau Weigand«, sagte Annegret. »Daß die Sachen weg sind, ist vielleicht nicht so schlimm, weil die Versicherung zahlt. Aber der Schock! Waren die Diebe etwa auch bei uns?«
»Nein, ihr haben Glück. Kamen nicht hier oben. Ich glauben, Kinder stellen auf Straße und gucken, wer geht weg, und dann kommen. Und haben gesehen Frau Weigand mit ihr Hund. Haben aber nicht gesehen, als ihr gereist habt.«
Oswald hatte inzwischen die Tür aufgeschlossen und die Koffer in den Flur gestellt. »Wir haben ein Stück Kuchen für dich«, sagte Annegret, als sie alle drei in der Wohnung standen. Sie kniete sich auf den Fußboden, öffnete einen der Koffer, hob einen Beutel mit Äpfeln und einen der Topfkuchen heraus und legte beides auf dem Deckel des anderen Koffers ab. Dann holte sie ein Messer aus der Küche, schnitt ein ordentliches Stück aus dem mit Rosinen und Sukkade gespickten Backwerk heraus und hielt Kuchen und Äpfel dem Araber hin, der die Geschenke mit etlichen Verbeugungen entgegennahm. »Vielen Dankeschön«, sagte er, blieb aber stehen, denn sein Rapport war noch nicht beendet.
»War Besuch für euch. Fünf im ganzen. Zuerst, Freitag, Gregor und Sibylle, die ich ja kenne. Ich sagte, ihr wohl bald zurück. Von Reise wußte ich nicht. Nächstes Mal lieber Bescheid sagen.«
»Das wollten wir auch«, antwortete Annegret, »aber du warst nicht da. Es war ja auch keine große Reise, nur eine Wochenendfahrt.«
»Okay. Gingen wieder, Gregor und Sibylle. Aber Freitag auch noch anderer Mann. Hat einen furchtbaren Gesicht. Großen Wunde an … , warte, ja, an linkes Auge von Krieg oder Unglück. War wirklich groß Loch im Kopf. Hatte vielleicht fünfzig Jahren, der Mann. Und Sonnabend noch zwei Männer. Einer ungefähr vierzig, anderer ungefähr dreißig Jahren.«
»Also im ganzen drei Männer, die du noch nie bei uns gesehen hast?« fragte Oswald.
»Ja, allen drei ich nicht kennen. Haben erst geklingelt bei euren Tür, hör ich ja. Aber ihr nicht da und dann bei mir.«
»Und fragten sie nach Oswald oder nach mir?« wollte Annegret wissen.
»Beiden. Allen drei sagten nicht Oswald und nicht Annegret allein, sagten Kopjellas oder auch Bruder und Schwester, glaub’ ich.«
»Ich kenne«, meinte daraufhin Oswald, »ja ’ne Menge Leute mit kaputtem Kopf, aber das ist dann mehr innen. Mit einem Augendefekt kenn’ ich keinen. Du?« Er sah seine Schwester an. Sie schüttelte nur den Kopf.
»Jedenfalls vielen Dank!« Oswald klopfte dem Nachbarn leicht gegen die Schulter.
»Und ich auch danken für Mitbringen.« Den Kuchen in der einen, den Beutel mit Äpfeln in der anderen Hand, zog Yussuf ab.
Als er seine Tür hinter sich zugemacht hatte, fragte Oswald:
»Wer kann das bloß gewesen sein? Gleich drei verschiedene Besucher?«
»Keinen Schimmer«, antwortete Annegret. »Aber wenn es wichtig war, kommen sie wieder.«
Sie gingen endgültig in ihre Wohnung und packten aus. Danach machte Oswald einen Kaffee.
Sie wohnten nur vorübergehend zusammen. Annegret hatte vor vier Monaten ihre WG in Altona verlassen müssen, gemeinsam mit drei anderen
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