1Q84: Buch 1&2
verwundert. Und woher weiß ich, dass er es 1926 geschrieben hat?
Sie hatte nicht einmal eine besondere Vorliebe für klassische Musik. Sie verband auch keine persönlichen Erinnerungen mit Janáček. Doch seit dem Augenblick, in dem sie den ersten Satz gehört hatte, waren ihr spontan alle möglichen Daten in den Sinn gekommen. Wie eine Schar Vögel, die einem durch ein geöffnetes Fenster ins Haus fliegt. Noch dazu löste die Musik eine höchst dramatische Empfindung in Aomame aus. Es war ein Gefühl, als werde sie irgendwie innerlich aufgezogen , als werde an ihr geschraubt oder gedreht. Es war an sich nicht schmerzhaft oder besonders unangenehm. Sie hatte nur das Gefühl, ihr ganzer Organismus würde allmählich physisch umgestülpt. Aomame konnte es nicht begreifen. War es die Sinfonietta , die dieses mysteriöse Gefühl in ihr auslöste?
»Janáček«, sagte Aomame geistesabwesend. Dann fand sie, sie hätte es lieber nicht sagen sollen.
»Was war das?«
»Janáček. Der Mann, der diese Musik komponiert hat.«
»Das wusste ich nicht.«
»Ein tschechischer Komponist«, sagte Aomame.
»Aha«, erwiderte der Chauffeur beeindruckt.
»Ist das ein Privattaxi?«, fragte Aomame, um das Thema zu wechseln.
»Ja«, sagte der Fahrer. Dann, nach einer Pause: »Ich bin selbstständig. Dies ist mein zweiter Wagen.«
»Man sitzt sehr bequem.«
»Vielen Dank. Übrigens …« Der Fahrer drehte den Kopf ein Stück in ihre Richtung. »Haben Sie es sehr eilig?«
»Ich werde in Shibuya erwartet. Deshalb bin ich an der Stadtautobahn eingestiegen.«
»Um wie viel Uhr müssen Sie dort sein?«
»17.30 Uhr«, sagte Aomame.
»Wir haben jetzt 15.45 Uhr. Sie werden es nicht pünktlich schaffen.«
»Ist der Stau so schlimm?«
»Vor uns hat es anscheinend einen schweren Unfall gegeben. Das ist kein gewöhnlicher Stau. Es geht ja schon seit einer ganzen Weile kaum vorwärts.«
Verwundert fragte sich Aomame, warum der Taxifahrer dann keinen Verkehrsfunk hörte. Auf der Stadtautobahn herrschte ein katastrophaler Stau, der Verkehr war völlig zum Erliegen gekommen. Als Taxifahrer würde er seine Informationen normalerweise über eine besondere Frequenz erhalten.
»Das wissen Sie, ohne den Verkehrsfunk zu hören?«, fragte Aomame.
»Auf den Verkehrsfunk und dergleichen ist kein Verlass«, sagte der Fahrer tonlos. »Die Hälfte der Informationen ist falsch. Die vom Straßenamt vertreten nur ihre eigenen Interessen. Ich ziehe meine Schlüsse aus dem, was ich mit eigenen Augen sehe.«
»Und Ihrer Ansicht nach wird sich dieser Stau nicht so leicht auflösen?«
»Vorläufig nicht«, sagte der Fahrer mit einem ruhigen Nicken. »Das kann ich garantieren. Wenn der Verkehr einmal auf diese Weise stockt, ist die Stadtautobahn die Hölle. Geht es bei Ihrer Verabredung um etwas Wichtiges?«
Aomame überlegte. »Ja, es ist wichtig. Ein Termin mit einem Klienten.«
»Sehr unangenehm. Es tut mir leid, aber Sie werden ihn wohl verpassen.« Bei diesen Worten wiegte der Fahrer mehrmals leicht den Kopf, als würde er seine verspannten Schultern lockern. Die Falten in seinem Nacken bewegten sich wie bei einem Urtier. Bei dem Anblick musste Aomame an den scharfen spitzen Gegenstand ganz unten in ihrer Umhängetasche denken. Ihre Handflächen wurden feucht.
»Was kann man denn da machen?«
»Eigentlich nichts. Hier auf der Stadtautobahn bleibt uns keine andere Möglichkeit, als uns bis zur nächsten Ausfahrt vorzuarbeiten. Man kann nicht wie auf einer normalen Straße einfach aussteigen und von der nächsten Haltestelle aus mit der Bahn fahren.«
»Welches ist denn die nächste Ausfahrt?«
»Ikejiri, aber wahrscheinlich brauchen wir dorthin bis Sonnenuntergang.«
Bis zum Abend? Aomame stellte sich vor, bis abends in diesem Taxi eingeschlossen zu sein. Noch immer erklang das Stück von Janáček. Die gedämpften Töne der Streicher traten nun in den Vordergrund, wie um das Aufwallen ihrer Gefühle zu besänftigen. Der Eindruck des Verdrehtwerdens dauerte an. Was das nur war?
Aomame hatte das Taxi in der Nähe von Kinuta herangewinkt, und bei Yoga waren sie auf die Stadtautobahn Nr. 3 gefahren. Zu Anfang war der Verkehr reibungslos dahingeflossen. Doch kurz vor Sangenjaya hatte er plötzlich gestockt und war bald fast ganz zum Erliegen gekommen. Auf der Spur, die stadtauswärts führte, ging es gut voran, nur stadteinwärts gab es diesen grauenhaften Stau. Um 15 Uhr nachmittags gab es auf der Nr. 3 in Richtung Stadt normalerweise keine Staus.
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