1Q84: Buch 1&2
dieses Mädchens in seinem Herzen bewahrt.
Inzwischen musste Aomame dreißig sein und sah wahrscheinlich völlig anders aus. War gewachsen, hatte sicher auch einen Busen und natürlich eine andere Frisur. Falls sie die Zeugen Jehovas verlassen hatte, verwendete sie vielleicht sogar Make-up. Und trug elegante, teure Kleidung. Allerdings konnte Tengo sich nicht gut vorstellen, wie Aomame in einem Kostüm von Calvin Klein und hohen Schuhen die Straßen entlangstöckelte. Aber möglich war es. Menschen entwickelten sich, und Entwicklung bedeutete Veränderung. Vielleicht saß sie sogar hier im Lokal, und er merkte es nicht einmal!
Während er sein Bierglas leerte, schaute er sich noch einmal um. Angeblich war sie ja ganz in der Nähe. In einer Entfernung, die man zu Fuß zurücklegen konnte. Das hatte Fukaeri gesagt. Und Tengo glaubte ihr. Wenn sie es sagte, war es bestimmt auch so.
Aber außer ihm saß nur noch ein studentisch aussehendes junges Paar an der Theke, das die Köpfe zusammensteckte und eifrig und vertraulich miteinander tuschelte. Beim Anblick dieser beiden überkam Tengo zum ersten Mal seit langem das Gefühl tiefer Einsamkeit. Ich bin ganz allein auf der Welt, dachte er. Ich habe niemanden.
Er schloss leise die Augen, konzentrierte sich und rief sich die Szene aus der Grundschule noch einmal ins Gedächtnis. Als er während des Unwetters in der vergangenen Nacht mit Fukaeri zusammen gewesen war, hatte er auch die Augen geschlossen und war in sein altes Klassenzimmer gelangt. Die Erfahrung war sehr real und konkret gewesen, und die Erinnerung erschien ihm frischer als sonst. Als habe der nächtliche Regen den Staub, der sie bedeckte, fortgewaschen.
Unsicherheit, Hoffnung und Angst waren bis in den letzten Winkel des leeren Klassenzimmers verstreut, hielten sich verborgen wie furchtsame kleine Tiere. Er rief sich die Szenerie ins Gedächtnis: die noch ungewischte Tafel mit irgendwelchen Formeln, die kleinen Stücke zerbrochener Kreide, die billigen sonnengebleichten Vorhänge, die Blumen (wie sie hießen, wusste er nicht) in der Vase auf dem Lehrerpult, die mit Reißzwecken an der Wand befestigten Bilder, die die Kinder gemalt hatten. Er hörte die Stimmen, die von draußen durch das Fenster tönten. Jedes Omen, jeden Plan und jedes Rätsel, die darin enthalten waren, vermochte er einzeln mit seinem Blick aufzuspüren.
Alles, was Tengo während der zehn Sekunden, in denen Aomame seine Hand hielt, gesehen hatte, war präzise wie eine Fotografie auf seine Netzhaut gebannt. Dieser Moment war zur entscheidenden Schlüsselszene geworden, die ihm half, die schweren Jahre seiner Jugend zu überstehen. Der starke Druck von Aomames Fingern war ein unabdingbarer Teil dieser Szene. Ihre rechte Hand hatte Tengo in den schmerzhaften Zeiten seines Heranwachsens ermutigt. Alles in Ordnung. Du hast mich, lautete die Botschaft, die die Hand ihm übermittelte.
DU BIST NICHT ALLEIN .
Sie hält sich versteckt, hatte Fukaeri gesagt. Wie eine verletzte Katze.
Wenn man darüber nachdachte, war es schon ein seltsames Zusammentreffen. Auch Fukaeri musste sich doch verbergen. Durfte Tengos Wohnung nicht verlassen. In einer Ecke von Tokio hielten sich gleich zwei Frauen versteckt. Beide waren auf der Flucht vor etwas. Beide standen in enger Beziehung zu Tengo. Ob es da einen Zusammenhang gab? Oder war es bloß Zufall?
Natürlich hatte er darauf keine Antwort. Die Frage war nur so am Rande aufgetaucht. Wie üblich gab es einfach zu viele Fragen und zu wenige Antworten.
Als er sein Bier ausgetrunken hatte, kam ein junger Kellner an seinen Tisch und fragte, ob er noch einen Wunsch habe. Nach kurzem Zögern bestellte Tengo einen Bourbon on the rocks und noch ein Schälchen Nüsse. Egal welche. Er dachte weiter über Aomame nach. Aus der Küche kam der Duft frischgebackener Pizza.
Vor wem in aller Welt musste Aomame sich verstecken? Vielleicht war sie auf der Flucht vor den Behörden? Andererseits konnte Tengo sich nicht vorstellen, dass eine Kriminelle aus ihr geworden war. Welches Verbrechen sollte sie begangen haben? Nein, es war nicht die Polizei oder so etwas. Wer oder was Aomame verfolgte, hatte bestimmt nichts mit dem Gesetz zu tun.
Plötzlich schoss ihm der Gedanke durch den Kopf, ob nicht die, die hinter Fukaeri her waren, auch Aomame verfolgten? Die Little People. Doch warum sollten die Little People Jagd auf Aomame machen?
Angenommen, bei den Verfolgern handelte es sich wirklich um die Little People. Dann war
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