1Q84: Buch 1&2
städtischen Angestellten verschlossen. Wahrscheinlich um Obdachlose fernzuhalten. Tagsüber plauderten hier junge Mütter lebhaft miteinander, während ihre Kleinen spielten. Tengo hatte das schon mehrmals beobachtet. Aber nach Sonnenuntergang kam fast niemand mehr her.
Tengo stieg auf die Rutschbahn und blickte im Stehen zum nächtlichen Himmel. Auf der Nordseite des Parks stand ein neues fünfstöckiges Apartmenthaus, das früher nicht dort gewesen war. Anscheinend war es erst kürzlich fertig geworden. Es versperrte den Blick auf den nördlichen Himmel. Doch alle anderen Häuser in der näheren Umgebung waren niedrig. Tengo ließ seinen Blick rundherum schweifen und entdeckte im Südwesten den Mond. Über dem Dach eines freistehenden alten Hauses, das nur ein Stockwerk hatte. Er war zu drei Vierteln voll. Wie vor zwanzig Jahren, dachte Tengo. Der Mond hatte genau die gleiche Größe und Form. Ein zufälliges Zusammentreffen. Wahrscheinlich.
Doch der Mond dort am frühherbstlichen Abendhimmel schien hell und klar. Wie von innen heraus strahlte er mit der eigentümlichen Wärme, die sein Licht in dieser Jahreszeit hatte. Der Eindruck war ein völlig anderer als der an jenem Dezembernachmittag um halb vier. Das milde und natürliche Licht tröstete und beruhigte das Gemüt. Ebenso wie das Fließen von klarem Wasser und das leise freundliche Rascheln von Laub tröstet und beruhigt.
Lange sah Tengo von seinem Ausguck zu diesem Mond hinauf, während die Geräusche der verschiedenen Autoreifen, die auf der Ringstraße 7 dahinrollten, sich zu einer Art fernem Meeresrauschen verbanden und zu ihm herüberdrangen. Tengo musste an das Sanatorium an der Küste von Chiba denken, in dem sein Vater lebte.
Wie gewöhnlich ließen die irdischen Lichter der Großstadt den Schein der Sterne verblassen. Obwohl der Himmel so wunderbar klar war, schimmerten nur hier und da einige, die besonders kräftig waren. Nur der Mond behauptete sich hell und strahlend. Getreulich und klaglos stand er über den grellen Lichtern, dem Lärm und der verschmutzten Luft am Himmel. Bei genauerem Hinsehen waren die bizarren Schatten seiner riesigen Krater und Schluchten zu erkennen. Während Tengo selbstvergessen in seinem Glanz badete, erwachte in ihm eine Art ererbte Erinnerung an uralte Zeiten. Ehe die Menschen das Feuer, Werkzeuge und eine Sprache besaßen, war der Mond ihnen ein treuer Verbündeter gewesen. Als Himmelsleuchte erhellte er die finstere Welt und linderte ihre Furcht. Die Phasen seines Zu- und Abnehmens gaben ihnen eine Vorstellung von Zeit. Selbst in der Gegenwart, wo die Finsternis aus den meisten Gegenden vertrieben ist, scheint sich in unseren Genen ein Gefühl der Dankbarkeit für die großzügigen Gaben des Mondes bewahrt zu haben. Eine warme, kollektive Erinnerung.
Eigentlich hatte Tengo den Mond schon lange nicht mehr so genau betrachtet. Wann hatte er das letzte Mal zu ihm hinaufgeschaut? Wer seine Tage in der Hektik der Großstadt verbrachte, eilte irgendwann nur noch mit zu Boden gerichtetem Blick durchs Leben. Und vergaß dabei, den Abendhimmel zu betrachten.
Plötzlich fiel ihm auf, dass in geringer Entfernung zum Mond ein weiterer Mond am Himmel stand. Zuerst hielt er es für eine durch eine Lichtbrechung hervorgerufene optische Täuschung. Doch alles Schauen änderte nichts an der Tatsache, dass sich am Himmel die festen Umrisse eines zweiten Mondes zeigten. Tengo war wie vom Donner gerührt und starrte geistesabwesend und mit halbgeöffnetem Mund dorthin. Er konnte nicht fassen, was er sah. Seine Vorstellungen stimmten nicht mit dem überein, was sich ihm zeigte. Es hatte Ähnlichkeit mit dem Gefühl, eine Idee nicht mit Worten ausdrücken zu können.
Ein zweiter Mond?
Tengo schloss die Augen und rieb sich mit beiden Händen die Wangen. Was ist los mit mir?, dachte er. So viel habe ich doch gar nicht getrunken. Er atmete ruhig ein und ruhig wieder aus. Überzeugte sich, dass er bei klarem Bewusstsein war. Schloss die Augen und vergewisserte sich noch einmal im Dunkeln, wer er war, wo er war und was er tat: September 1984, Tengo Kawana, Koenji, Bezirk Suginami, Kinderspielplatz, sehe zum Mond am Abendhimmel hinauf. Kein Zweifel.
Er schlug ruhig die Augen auf und blickte wieder zum Himmel. Kühl und konzentriert. Tatsächlich, es waren zwei Monde.
Er täuschte sich nicht. Es gab plötzlich zwei Monde. Lange hielt Tengo die rechte Hand zu einer festen Faust geballt. Der Mond blieb weiter stumm, aber einsam war er
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