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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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womöglich er das eigentliche Ziel. Natürlich begriff Tengo nicht, warum ausgerechnet er der Schlüssel zu den Ereignissen sein sollte. Aber wenn es einen Faktor gab, der die beiden Frauen verband, kam kein anderer als er selbst in Frage. Vielleicht habe ich, ohne es zu wissen, eine Kraft mobilisiert, um Aomame in meine Nähe zu bringen, dachte er.
    Eine Kraft?
    Er starrte auf seine Hände. Keine Ahnung. Woher sollte eine solche Kraft kommen?
    Man servierte ihm den Four Roses on the rocks. Und die Nüsse. Er nahm einen Schluck von seinem Whisky, griff sich ein paar Nüsse aus dem Schälchen und schüttelte sie leicht in der hohlen Hand.
    Jedenfalls ist Aomame irgendwo hier in der Stadt, dachte er. So nah, dass ich zu Fuß zu ihr gehen könnte. Sagt Fukaeri. Und ich glaube ihr. Ich weiß zwar nicht warum, doch ich glaube ihr. Aber wie soll ich Aomame finden, wenn sie sich irgendwo versteckt hält?
    Es war ja schon nicht leicht, jemanden zu finden, der ein gesellschaftliches Leben führte, aber wenn jemand sich absichtlich verborgen hielt, war das fast unmöglich. Ob er mit einem Lautsprecher herumgehen und ihren Namen rufen sollte? Dann würde sie ganz bestimmt nicht herauskommen. Er würde die Aufmerksamkeit der Umgebung erregen und sie nur noch mehr in Gefahr bringen.
    Ich muss mich an etwas Bestimmtes erinnern, das ist meine einzige Chance, dachte Tengo.
    Wie Fukaeri gesagt hatte. Schon länger erschienen ihm ein oder zwei wichtige Punkte in seiner Erinnerung an Aomame etwas fraglich. Etwas störte ihn daran, wie ein kleiner Stein, den man im Schuh hat. Das Gefühl war vage und drängend zugleich.
    Tengo leerte sein Bewusstsein, wie man eine Tafel sauberwischt, und grub noch einmal in seinem Gedächtnis. Er rief sich Aomame, sich selbst und die Gegenstände, die sie umgeben hatten, vor Augen und reinigte alles vom weichen Schlamm, wie ein Fischer, der gerade sein Netz heraufgezogen hat. Stück für Stück reihte er aneinander und dachte gründlich darüber nach. Dennoch waren es Dinge, die sich vor zwanzig Jahren zugetragen hatten. Auch wenn er vieles von damals noch sehr deutlich wusste, war das, woran er sich konkret erinnern konnte, doch eingeschränkt.
    Dennoch musste er dieses Etwas entdecken, das er bisher übersehen hatte. Am besten hier und sofort. Andernfalls würde er Aomame, die sich mutmaßlich irgendwo in diesem Viertel aufhielt, wahrscheinlich nicht finden. Und wenn er Fukaeris Worten Glauben schenkte, war seine Zeit auch begrenzt. Außerdem wurde Aomame gejagt.
    Tengo beschloss, die damalige Szene nun aus Aomames Perspektive durchzugehen. Was hatte sie gesehen? Und was hatte er selbst gesehen? Er würde am Fluss der Zeit entlang zurückgehen und ihrem Blick folgen.
    Das Mädchen hatte ihm, während sie sich an den Händen hielten, direkt ins Gesicht geschaut, ohne ein einziges Mal die Augen abzuwenden. Tengo hatte damals nicht verstanden, warum sie das tat, und ihr anfangs auf der Suche nach einer Erklärung in die Augen geschaut. Es musste ein Missverständnis vorliegen. Oder ein Irrtum. Hatte er gedacht. Aber er fand keinen Anhaltspunkt für ein Missverständnis oder einen Irrtum. Ihm fiel nur auf, dass ihre Augen eine erstaunliche Klarheit besaßen. Noch nie hatte er einen so klaren, ungetrübten Blick gesehen. Ungeachtet dieser Transparenz war er wie eine tiefe Quelle, der man nicht bis auf den Grund schauen kann. Ihm war, als würde er in ihre Augen hineingesogen. Um ihnen zu entkommen, sah er beiseite. Er konnte nicht anders.
    Zunächst schaute er auf den Dielenboden zu seinen Füßen, dann zur Tür des leeren Klassenzimmers, schließlich drehte er ein wenig den Kopf und sah aus dem Fenster. Aomames Blick wich und wankte während dieser ganzen Zeit nicht, richtete sich weiter fest auf seine Augen, obwohl er bereits aus dem Fenster sah. Er spürte ihren Blick brennend und fast schmerzhaft. Ihre Finger umklammerten mit unverminderter Stärke seine linke Hand, ohne dass die Kraft ihres Drucks erlahmte. Aomame fürchtete sich nicht. Es gab nichts auf der Welt, vor dem sie sich fürchtete. Und dieses Gefühl versuchte sie Tengo über ihre Fingerkuppen zu vermitteln.
    Das Fenster stand noch weit offen, um nach dem Saubermachen frische Luft hereinzulassen, und die hellen Vorhänge flatterten leicht im Wind. Dahinter erstreckte sich der Himmel. Es war Dezember, aber noch nicht sehr kalt. Hoch am Himmel zogen Wolken vorbei. Horizontale weiße Wolken, ein letztes Überbleibsel des Herbstes. Sie wirkten

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