1Q84: Buch 1&2
und ein anderes Mädchen hatte den Text produziert. Dieser Prozess hatte etwas von mündlicher Überlieferung. So waren auch das berühmte Kriegerepos Die Geschichte von den Heike und das Kojiki , die frühsten Aufzeichnungen über die Geburt Japans, entstanden. Dieser Umstand milderte zwar die Schuldgefühle, die Tengo wegen seiner eigenen Bastelei an »Die Puppe aus Luft« hatte, verkomplizierte jedoch die Sachlage insgesamt betrachtet noch mehr – so sehr, dass er, um es deutlich auszudrücken, in der Klemme saß.
Hinzu kam Fukaeris Leseschwäche. Sie konnte ja kaum ein Buch lesen. Tengo überlegte. Was wusste er über Legasthenie? Während seines Pädagogikstudiums hatte er an einer Vorlesung über diese Behinderung teilgenommen. Im Prinzip konnten Legastheniker lesen und schreiben. Diese Schwäche hatte nichts mit ihrer Intelligenz zu tun. Dennoch brauchten sie unglaublich viel Zeit, um etwas zu lesen. Kurze Sätze stellten eine geringere Schwierigkeit dar, aber bei längeren und inhaltlich komplexeren Texten vermochten sie dem Informationsfluss nicht zu folgen. Sie besaßen nicht die Fähigkeit, Zeichen und Inhalte miteinander zu verknüpfen. So die allgemeinen Symptome der Legasthenie. Ihre Ursachen waren noch nicht vollständig geklärt. Es war keineswegs ungewöhnlich, dass in einer Klasse ein oder zwei Kinder an Legasthenie litten. Einstein war davon betroffen gewesen, Edison ebenso und auch Charlie Mingus. Tengo wusste nicht, ob Menschen mit einer Leseschwäche zwar schreiben konnten, dabei jedoch die gleichen Schwierigkeiten hatten wie beim Lesen. Bei Fukaeri schien dies der Fall zu sein.
Was Komatsu wohl sagen würde, wenn er davon erfuhr? Unwillkürlich stieß Tengo einen Seufzer aus. Diese siebzehnjährige junge Frau litt unter angeborener Legasthenie, beherrschte es also nur ungenügend, längere Sätze zu lesen oder zu schreiben. Auch im Gespräch brachte sie kaum mehrere Sätze hintereinander zustande, und selbst wenn es sich dabei um eine Attitüde handeln sollte, wäre sie für die Karriere einer Berufsschriftstellerin im Grunde ungeeignet. Selbst wenn Tengo »Die Puppe aus Luft« so geschickt überarbeitete, dass das Manuskript den Debütpreis erhalten, als Buch veröffentlicht werden und es zu einer gewissen Bekanntheit bringen würde, wären sie nicht in der Lage, die Öffentlichkeit auf Dauer zu täuschen. Vielleicht gelang ihnen das am Anfang, aber irgendwann würde sicher jemand Verdacht schöpfen. Und wenn die Wahrheit ans Licht käme, wären alle Beteiligten erledigt. Tengos Schriftstellerkarriere würde ein abruptes Ende finden – noch ehe sie überhaupt richtig begonnen hatte.
Komatsus hanebüchener Plan war nicht haltbar. Tengo hatte von Anfang an gespürt, dass sie sich auf dünnes Eis begaben, aber das war gar kein Ausdruck für das, was sie jetzt vor sich hatten. Das Eis krachte schon, ehe sie überhaupt einen Fuß darauf gesetzt hatten. Sobald er wieder zu Hause war, würde er Komatsu anrufen. »Tut mir leid, Herr Komatsu«, würde er sagen, »aber ich ziehe mich aus der Sache zurück. Sie ist mir einfach zu gefährlich.« So handelte ein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hatte.
Doch kaum dachte er an »Die Puppe aus Luft«, geriet Tengos Entschlusskraft heftig ins Wanken. Er war gespalten. So riskant ihm der von Komatsu geplante Coup auch schien, es war Tengo unmöglich, seine Arbeit an »Die Puppe aus Luft« jetzt noch abzubrechen. Vielleicht wäre er, bevor er mit dem Umschreiben begonnen hatte, noch dazu imstande gewesen. Oder wenn er die Arbeit schon abgeschlossen hätte. Aber jetzt konnte er es nicht mehr. Er steckte bis zum Hals in diesem Werk, war völlig darin eingetaucht. Er hatte die Luft der Welt darin geatmet und sich an deren Schwerkraft angepasst. Die Substanz der Geschichte war durch die Membranen seiner Organe bis in sein Innerstes gesickert. Diese Geschichte wollte ernsthaft von Tengo umgestaltet werden, und er konnte ihr Verlangen bis unter die Haut spüren. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Dies war etwas, das sich um seiner selbst willen zu tun lohnte, etwas, das er tun musste .
Tengo schloss die Augen und versuchte zu einem vorläufigen Entschluss zu kommen. Wie sollte er mit dieser Situation umgehen? Aber es gelang ihm nicht. Ein Mensch, der verwirrt und gespalten ist, kann keine klare Entscheidung treffen.
»Azami hat also das, was du gesagt hast, aufgeschrieben, ja?«, fragte Tengo.
»Während ich geredet habe«, antwortete Fukaeri.
»Du
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