1Q84: Buch 1&2
Der Artikel nahm fast die Hälfte des Gesellschaftsteils der Abendausgabe ein. Unmöglich, dass sie einen Artikel von dieser Größe übersehen hatte. Oder hatte sie ihn doch überlesen? Das war zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber ganz ausschließen konnte sie es nicht.
Sie legte die Stirn in Falten und dachte eine Weile über diese Möglichkeit nach. Dann schrieb sie das Datum und eine kurze Zusammenfassung der Fakten in ihr Heft.
Der Name des Kassierers lautete Shinnosuke Akutagawa. Ein eindrucksvoller Name. Wie der große Dichter. Ein Foto war nicht dabei. Nur eines von dem niedergestochenen Akira Takawa (21). Herr Takawa studierte im sechsten Semester Jura an der Japan-Universität und hatte den zweiten Dan in Kendo. Hätte er ein Bambusschwert gehabt, wäre er wohl nicht so leicht niedergestochen worden, aber kein normaler Mensch tritt einem Gebühreneintreiber von NHK mit einem Bambusschwert in der Hand entgegen. Und kein normaler Gebühreneinsammler läuft mit einem Küchenmesser in der Aktenmappe herum. Aomame durchsuchte aufmerksam die Berichte der darauffolgenden Tage, entdeckte aber keinen Artikel, der vom Tod des niedergestochenen Studenten berichtete. Vermutlich hatte er überlebt.
Am 16. Oktober hatte sich in einem Kohlebergwerk auf Hokkaido ein schreckliches Unglück ereignet. In einem Schacht tausend Meter unter der Erdoberfläche war durch eine Gasexplosion ein Feuer ausgebrochen. Mehr als fünfzig der Bergleute, die dort arbeiteten, erstickten. Der Brand breitete sich bis nach oben aus, und zehn weitere Menschen kamen ums Leben. Um die Ausbreitung des Feuers zu verhindern, zündete die Firma eine Bombe, ohne sich zu vergewissern, ob die Bergleute noch lebten, und flutete die Grube. Die Zahl der Toten stieg auf dreiundneunzig. Eine fürchterliche Tragödie. Kohle war eine »schmutzige« Energiequelle, und es war gefährlich, sie abzubauen. Die Bergbauunternehmen investierten nur ungern in verbesserte Techniken, und die Arbeitsbedingungen waren hart. Es kam häufig zu Unfällen, und eine Schädigung der Lungenflügel ließ sich kaum vermeiden. Aber Kohle war billig und wurde deshalb weiterhin genutzt. Aomame konnte sich noch gut an dieses Unglück erinnern.
Das Ereignis, nach dem sie suchte, hatte am 19. Oktober stattgefunden, als auch das Grubenunglück noch ganz aktuell war. Bis Tamaru ihr vor wenigen Stunden davon erzählt hatte, war Aomame ahnungslos gewesen. Die Schlagzeile ging über die ganze Seite der Vormittagsausgabe, und zwar in so großen Lettern, dass man sie einfach nicht übersehen konnte. Es war ausgeschlossen, dass ihr dieser Vorfall entgangen war, ganz gleich, wie lange er zurücklag.
DREI POLIZISTEN BEI FEUERGEFECHT MIT EXTREMISTEN IN DEN BERGEN VON YAMANASHI GETÖTET
Auch ein großes Foto von dem Flugfeld, an dem der Zwischenfall stattgefunden hatte, war abgedruckt. Es lag in der Gegend des Motosu-Sees. Sogar eine einfache Karte war beigefügt. Der Schauplatz der Ereignisse lag tief in den Bergen, weit entfernt von der als Feriengebiet erschlossenen Region. Auch die drei getöteten Beamten der Präfekturpolizei Yamanashi waren abgebildet. Und die Spezialeinheit der Selbstverteidigungsstreitkräfte, die mit dem Hubschrauber eingetroffen war. Die Soldaten trugen Kampfanzüge in Tarnfarben und waren mit kurzläufigen Automatik- und Scharfschützengewehren mit Zielfernrohr ausgestattet.
Aomame verzerrte einen Moment lang ihr Gesicht zu einer furchtbaren Grimasse. Ihre Gefühle brachen sich Bahn, indem sie jeden Muskel bis zum Äußersten anspannte. Glücklicherweise war der Tisch zu beiden Seiten abgeteilt, wodurch niemand Zeuge der grauenhaften Veränderung wurde, die in Aomames Gesichtszügen vor sich ging. Schließlich atmete sie tief durch, indem sie die Luft mit aller Kraft einsog und mit ebensolcher Gewalt ausstieß. Es hörte sich an, als würde ein Wal aus dem Meer auftauchen und die Luft in seinen riesigen Lungen austauschen. Eine Schülerin, die mit dem Rücken zu ihr saß und lernte, fuhr bei diesem Geräusch entsetzt zu Aomame herum. Natürlich sagte sie nichts. Sie war nur erschrocken.
Nachdem Aomame ihr Gesicht eine Weile so verzerrt hatte, fasste sie sich. Ihre Muskeln entspannten sich, und ihr Gesicht nahm wieder seinen normalen Ausdruck an. Während sie mit dem Kugelschreiber gegen ihre Vorderzähne klopfte, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. Für all das gab es doch sicher einen Grund. Es musste einen Grund geben.
Wie konnte ich einen so schwerwiegenden
Weitere Kostenlose Bücher