1Q84: Buch 1&2
hast gesprochen, und sie hat es aufgeschrieben?«, fragte Tengo.
»Aber ich musste leise sprechen.«
»Warum musstest du leise sprechen?«
Fukaeri sah sich im Waggon um. Es gab kaum Fahrgäste. Nur eine Mutter mit zwei kleinen Kindern saß ein paar Plätze entfernt auf der anderen Seite. Die drei schienen zu irgendeinem erfreulichen Ort unterwegs zu sein. Es gab auch glückliche Menschen auf der Welt.
»Damit sie uns nicht hören konnten«, flüsterte Fukaeri.
»Sie?«, fragte Tengo. Als er ihrem unsteten Blick folgte, war ihm klar, dass sie nicht die Mutter mit den Kindern meinte. Fukaeri sprach von konkreten Personen, die sie kannte – im Gegensatz zu Tengo – und die nicht hier waren.
»Wer sind denn sie ?«, fragte Tengo, ebenfalls mit gedämpfter Stimme.
Fukaeri sagte nichts. Zwischen ihren Augenbrauen bildete sich eine kleine Falte. Sie presste die Lippen fest aufeinander.
»Sind es die Little People?«, fragte Tengo.
Natürlich keine Antwort.
»Wären diese sie , von denen du sprichst, böse, wenn deine Geschichte gedruckt, veröffentlicht und bekannt würde?«
Fukaeri beantwortete auch diese Frage nicht. Ihre Augen schienen nirgends einen Halt zu finden. Nachdem er eine Weile gewartet hatte, um sicherzugehen, dass keine Antwort mehr kommen würde, stellte Tengo eine andere Frage.
»Willst du mir nichts über den Sensei erzählen, den du erwähnt hast? Was ist er für ein Mensch?«
Fukaeri schaute Tengo verwundert an. Wovon redet der eigentlich?, schien sie sich zu fragen. »Sie lernen ihn ja gleich kennen«, sagte sie schließlich.
»Stimmt auch wieder«, erwiderte Tengo. »Natürlich. Dann kann ich mich selbst überzeugen.«
Am Bahnhof Kokubunji stieg eine Gruppe älterer Leute in Wanderkleidung ein. Es waren etwa zehn Personen, die Hälfte davon Männer, die andere Hälfte Frauen, alle ungefähr zwischen Mitte sechzig und Anfang siebzig. Sie trugen Rucksäcke und Mützen. Ihre Wasserflaschen hatten sie entweder um die Hüften geschlungen oder in eine Seitentasche des Rucksacks gepackt. Sie waren in fröhlicher, ausgelassener Stimmung, wie Erstklässler auf einem Schulausflug. Tengo fragte sich, ob er in dem Alter auch noch so gut gelaunt sein würde. Er schüttelte leicht den Kopf. Nein. Wahrscheinlich nicht. Er stellte sich vor, wie die alten Leutchen voller Stolz auf irgendeinem Berggipfel ihre Wasserflaschen ansetzten und tranken.
Die Little People mussten sehr viel Wasser trinken, weil sie so klein waren. Sie tranken nicht gern Wasser aus der Leitung, sie bevorzugten Regenwasser und das Wasser aus dem nahe gelegenen Bach. Deshalb musste das Mädchen den ganzen Tag eimerweise Wasser vom Bach holen und den Little People zu trinken geben. Wenn es regnete, stellte es den Eimer unter das Regenrohr und fing das Wasser auf, denn das Regenwasser mochten die Little People noch lieber als das aus dem Bach, auch wenn es das gleiche natürliche Wasser war. Sie waren dem Mädchen dankbar für seine Freundlichkeit.
Tengo merkte, dass es ihm schwerfiel, sich zu konzentrieren. Kein gutes Zeichen. Vielleicht lag es daran, dass heute Sonntag war. Eine gewisse Art der Verwirrung breitete sich in ihm aus. Irgendwo auf der Ebene seiner Gefühle braute sich ein gefährlicher Sandsturm zusammen. An Sonntagen kam das mitunter vor.
»Was ist denn«, fragte Fukaeri ohne Fragezeichen. Sie schien Tengos Anspannung zu spüren.
»Ob alles gutgeht?«, fragte Tengo.
»Was denn.«
»Das Gespräch.«
»Das Gespräch«, fragte Fukaeri. Anscheinend begriff sie nicht, wovon die Rede war.
»Mit dem Sensei«, sagte Tengo.
»Ob das Gespräch mit dem Sensei gutgeht«, wiederholte sie.
Tengo zögerte kurz und sprach dann seine Bedenken aus. »Im Grunde habe ich das Gefühl, dass alle möglichen Dinge nicht richtig ineinandergreifen und alles schiefgeht.«
Fukaeri wandte sich Tengo zu und blickte ihm direkt ins Gesicht. »Angst«, fragte sie.
»Ob ich mich vor etwas fürchte?«, formulierte Tengo ihre Frage aus.
Fukaeri nickte stumm.
KAPITEL 9
Aomame
Mit der Szenerie ändern sich die Regeln
Aomame begab sich von ihrer Wohnung in die nächstgelegene Bibliothek und erbat an der Theke Einsicht in die Zeitungen von September bis November 1981, die in verkleinerten Ausgaben archiviert wurden. »Welche möchten Sie denn? Wir haben Asahi, Yomiuri, Mainichi und Nikkei «, erkundigte sich die Bibliotheksangestellte. Sie war mittleren Alters und trug eine Brille. Sie erweckte eher den Anschein einer Hausfrau, die zur
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