1Q84: Buch 1&2
das Neuste an ihm. Mehr konnte er sich nicht leisten.
Als Tengo ganz vorn am Gleis der Chuo-Linie stadtauswärts in Richtung Tachikawa ankam, war Fukaeri schon dort. Sie saß reglos auf einer Bank und blickte mit halb geschlossenen Augen in die Luft. Über einem nicht anders als sommerlich zu bezeichnenden Kleid aus bedruckter Baumwolle trug sie eine dicke grasgrüne Winterstrickjacke und an den nackten Füßen graue verwaschene Turnschuhe. Eine für diese Jahreszeit etwas seltsame Zusammenstellung. Das Kleid war zu dünn und die Jacke zu dick. Aber da sie sich so angezogen hatte, empfand sie ihre Aufmachung wohl nicht als verfehlt. Vielleicht drückte sie durch dieses Missverhältnis sogar eine persönliche Weltsicht aus. So konnte man es auch sehen. Aber vielleicht hatte sie die Sachen schlicht zufällig gewählt, ohne sich etwas dabei zu denken.
Sie saß einfach nur da, ohne in einer Zeitung oder in einem Buch zu lesen oder Walkman zu hören, und starrte mit ihren großen schwarzen Augen vor sich hin. Vielleicht beobachtete sie etwas, vielleicht auch nicht. Beides war möglich. Vielleicht dachte sie nach, oder sie dachte an gar nichts. Aus der Ferne wirkte sie wie eine sehr realistisch gearbeitete Skulptur aus einem besonderen Material.
»Wartest du schon lange?«, fragte Tengo.
Fukaeri sah ihn an, dann legte sie den Kopf ein wenig zur Seite. Ihre Augen schimmerten wie Seide, doch wie bei ihrer ersten Begegnung konnte er keinen Ausdruck darin erkennen. Im Augenblick schien sie mit niemandem reden zu wollen. Daher verzichtete Tengo auf die Bemühung, die Unterhaltung fortzuführen, und setzte sich stumm neben sie auf die Bank.
Als der Zug kam, stand Fukaeri wortlos auf. Die beiden stiegen ein. Sonntags fuhren offenbar nur wenige Leute mit dem Schnellzug nach Takao. Tengo und Fukaeri setzten sich nebeneinander und blickten schweigend aus gegenüberliegenden Fenstern auf die draußen vorüberziehende Stadtlandschaft. Da Fukaeri noch immer nichts sagte, schwieg auch Tengo. Wie um sich gegen eine bevorstehende Kälte zu wappnen, zog sie den Kragen ihrer Jacke fest zu und blickte mit zusammengepressten Lippen nach vorn.
Tengo holte das Taschenbuch hervor, das er mitgebracht hatte, und fing an zu lesen. Doch dann zögerte er. Er klappte das Buch zu und packte es wieder in die Tasche, legte, wie um Fukaeri Gesellschaft zu leisten, die Hände auf die Knie und blickte versunken geradeaus. Vielleicht hätte er sich ein paar Gedanken machen sollen, aber es fiel ihm beim besten Willen nichts ein. Offenbar verweigerte sein Verstand gezieltes Nachdenken, weil er sich so stark auf die Überarbeitung von »Die Puppe aus Luft« konzentriert hatte. Sein Gehirn fühlte sich an wie ein Knäuel wirrer Fäden.
Tengo betrachtete die am Fenster vorbeifließende Szenerie und lauschte dem monotonen Rauschen, das von den Schienen zu ihm heraufstieg. Die Chuo-Linie verlief schnurgerade, wie mit dem Lineal gezogen. Nein, das wie war überflüssig, denn seinerzeit, als die Bahn gebaut wurde, hatte man genau das getan. In der Kanto-Ebene gab es keine nennenswerten topographischen Hindernisse, keine Biegungen, Erhebungen und Vertiefungen, und als die Schienen verlegt wurden, war man ohne Brücken oder Tunnel ausgekommen. Ein Lineal hatte ausgereicht. Die Bahn fuhr geradewegs auf ihr Ziel zu.
Tengo verspürte ein Schaukeln und erwachte. Er war während seiner Überlegungen unversehens eingeschlafen. Der Zug wurde langsamer, er fuhr in den Bahnhof Ogikubo ein und hielt. Ein kurzer Schlummer. Fukaeri blickte unverändert starr nach vorn. Was sie dort sah, wusste Tengo nicht. Doch da sie sich weiter auf dieses Etwas zu konzentrieren schien, hatte sie wohl noch nicht die Absicht, auszusteigen.
»Was liest du denn gern?«, fragte Tengo, unfähig, die Langeweile zu ertragen, als sie durch die Gegend von Mitaka fuhren. Diese Frage hatte er Fukaeri schon lange stellen wollen.
Fukaeri warf einen Blick auf ihn und schaute dann wieder geradeaus. »Ich lese keine Bücher«, sagte sie einfach.
»Überhaupt nie?«
Sie schüttelte kurz den Kopf.
»Du hast kein Interesse am Lesen?«, fragte Tengo.
»Es dauert bei mir sehr lange«, sagte Fukaeri.
»Du liest nicht, weil es zu lange dauert?«, fragte Tengo verständnislos.
Fukaeri hielt den Blick geradeaus gerichtet und gab keine Antwort. Es schien sich um eine Feststellung zu handeln, die keiner weiteren Ausführung bedurfte.
Objektiv gesehen dauerte es natürlich seine Zeit, ein Buch durchzulesen.
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