1Q84: Buch 1&2
Verglichen mit Fernsehen oder Mangas war die Lektüre eines Buches durchaus eine zeitaufwendige Tätigkeit. Doch Fukaeris Äußerung, sie brauche sehr viel Zeit dazu, schien eine Nuance zu haben, die über diesen allgemeinen Sachverhalt hinausging.
»Willst du damit sagen, dass du sehr viel Zeit brauchst, um zu lesen?«, fragte Tengo.
»Ja, sehr viel«, erwiderte Fukaeri.
»Mehr als andere Leute?«
Fukaeri nickte.
»Bereitet dir das in der Schule keine Probleme? Im Unterricht muss man ja eine ganze Menge lesen. Und wenn man so lange braucht …«
»Ich tue so, als würde ich lesen«, sagte sie unbekümmert.
Tengo vernahm irgendwo in seinem Kopf ein unheilvolles Klopfen. Er beschloss, das Geräusch so gut es ging zu überhören, er wollte darüber hinweggehen. Das konnte doch nicht sein. Aber er musste es wissen.
»Heißt das, dass du an Legasthenie leidest?«
»Legasthenie«, wiederholte Fukaeri.
»Leseschwäche.«
»Ja, das haben sie gesagt. Lega…«
»Wer hat das gesagt?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern.
»Also …« Tengo suchte nahezu händeringend nach Worten. »Hast du das schon seit deiner Kindheit?«
Fukaeri nickte.
»Du hast also noch nie einen Roman gelesen.«
»Nicht selbst«, sagte Fukaeri.
Das erklärte natürlich den fehlenden Einfluss anderer Schriftsteller auf ihren Text. Eine einleuchtende und unanfechtbare Erklärung.
»Du hast nie selbst gelesen«, stellte Tengo fest.
»Jemand hat mir vorgelesen«, sagte Fukaeri.
»Dein Vater oder deine Mutter?«
Darauf gab Fukaeri keine Antwort.
»Aber Probleme mit dem Schreiben hast du nicht, oder?«, fragte Tengo furchtsam.
Fukaeri nickte. »Doch, Schreiben dauert bei mir auch lange.«
» Sehr lange?«
Wieder zuckte Fukaeri leicht mit den Schultern. Das konnte nichts anderes heißen als Ja.
Tengo rutschte auf seinem Sitz herum und änderte seine Haltung. »Du hast also ›Die Puppe aus Luft‹ womöglich gar nicht selbst zu Papier gebracht?«
»Nein, habe ich nicht.«
Tengo ließ einige Sekunden vergehen. Beklemmende Sekunden. »Und wer war es dann?«
»Azami«, sagte Fukaeri.
»Wer ist Azami?«
»Wir beide zusammen.«
Wieder herrschte eine kurze Stille. »Dieses Mädchen hat ›Die Puppe aus Luft‹ für dich aufgeschrieben?«
Wieder nickte Fukaeri, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt.
Tengos Verstand arbeitete auf Hochtouren. »Du hast die Geschichte erzählt, und Azami hat einen zusammenhängenden Text daraus gemacht. War es so?«
»Getippt und ausgedruckt«, sagte Fukaeri.
Tengo kaute auf seinen Lippen. Er sichtete die Fakten, die ihm gerade präsentiert worden waren, und versuchte sie so zusammenzufügen, dass sie Sinn ergaben. »Und anschließend hat Azami das ausgedruckte Manuskript für den Preis eingereicht. Wahrscheinlich hat sie in Wirklichkeit sogar den Titel ›Die Puppe aus Luft‹ für dich erfunden.«
Fukaeri machte eine Kopfbewegung, die sowohl Ja als auch Nein bedeuten konnte. Aber sie widersprach nicht. Vermutlich hatte sich alles ungefähr so abgespielt.
»Ist Azami deine Freundin?«
»Wir wohnen zusammen.«
»Deine Schwester?«
Fukaeri schüttelte den Kopf. »Sie ist die Tochter vom Sensei.«
»Vom Sensei also«, sagte Tengo. »Und dieser Sensei lebt auch mit euch zusammen?«
Fukaeri nickte, als wollte sie sagen: Warum fragen Sie das jetzt alles?
»Wahrscheinlich ist es auch der Sensei, mit dem ich mich jetzt treffen soll, oder?«
Fukaeri sah Tengo an, als würde sie das Ziehen ferner Wolken beobachten. Oder als würde sie darüber nachdenken, was man mit einem begriffsstutzigen Hund anfangen solle. Dann nickte sie.
»Wir fahren jetzt zum Sensei«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme.
Damit war die Unterhaltung vorläufig beendet. Tengo und Fukaeri verfielen wieder in Schweigen und schauten aus dem Fenster. Auf der nichtssagenden flachen Ebene erstreckte sich ein unendliches Meer von merkmalslosen Häusern. Zahllose Fernsehantennen reckten sich wie Insektenfühler gen Himmel. Ob die Menschen, die dort lebten, alle ihre Rundfunkgebühren entrichteten? An Sonntagen musste Tengo immer unwillkürlich an die Gebühren denken. Er konnte nicht anders.
Heute, an diesem schönen Sonntagmorgen Mitte April, hatte er einige ziemlich unangenehme Fakten erfahren. Erstens hatte Fukaeri »Die Puppe aus Luft« gar nicht selbst geschrieben. Wenn er ihren Worten Glauben schenkte (und im Augenblick gab es für ihn keinen Grund, dies nicht zu tun), hatte sie die Geschichte bloß erzählt,
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