Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
erzählte sein Vater ihm wieder und wieder von seinen Erlebnissen. Dass er in einer armen Bauernfamilie in Tohoku zur Welt gekommen und unter Mühsal und Plagen aufgewachsen war; dass man ihn geschlagen hatte wie einen Hund, ehe er als Pionier in die Mandschurei gezogen war. Er erzählte von der Erde dort, die so kalt war, dass der Strahl beim Pinkeln zu Eis erstarrte. Das öde Land hatte er urbar gemacht und Pferdediebe und Wölfe gejagt. Dann war er vor den sowjetischen Panzern geflüchtet und hatte unbeschadet, ohne in einem sibirischen Lager zu landen, das heimatliche Japan erreicht. Mit leerem Magen hatte er sich durch die bitterarme Nachkriegszeit geschlagen, bis er durch einen glücklichen Zufall fest angestellter Gebührenkassierer bei NHK wurde. An dieser Stelle erreichte die Geschichte ihr ultimatives Happy End. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute …
    Sein Vater erzählte seine Geschichte gut. Tengo würde wohl nie erfahren, inwieweit sie den Tatsachen entsprach, aber ihr Verlauf war ziemlich schlüssig. Man konnte nicht behaupten, dass sie große Tiefe hatte, aber sein Vater erzählte detailgetreu, lebendig und farbig. Es gab lustige, ernste und gewalttätige Begebenheiten. Manche Episoden versetzten Tengo in sprachloses Erstaunen, andere wiederum konnte er nicht begreifen, ganz gleich, wie oft er sie hörte. Betrachtete man das Leben als eine Vielfalt von Episoden, ließ sich durchaus sagen, dass das Leben seines Vaters an sich reich gewesen war.
    Allerdings verlor die Erzählung, als sie den Punkt erreichte, an dem Tengos Vater bei NHK fest angestellt wurde, plötzlich ihre lebendige Farbigkeit. Es fehlte ihr an Details und Zusammenhängen. Es war, als sei die Fortsetzung für ihn nicht erzählenswert. Er lernte eine Frau kennen, heiratete, und sie bekamen ein Kind – das war natürlich Tengo. Wenige Monate nach seiner Geburt wurde Tengos Mutter schwer krank und starb. Sein Vater heiratete nicht wieder und zog den Jungen allein auf, während er weiter seiner Tätigkeit als Gebühreneinsammler bei NHK nachging. Bis heute. Ende der Geschichte.
    Wie er Tengos Mutter kennengelernt und geheiratet hatte, was für ein Mensch sie gewesen war, woran sie gestorben war (ob ihr Tod etwas mit Tengos Geburt zu tun hatte), ob ihr Tod vergleichsweise friedlich gewesen war oder qualvoll, all das erwähnte der Vater mit keinem Wort. Auf Tengos Fragen antwortete er stets ausweichend. Oft bekam er schlechte Laune und schwieg. Nicht ein einziges Bild war von Tengos Mutter geblieben. Es existierte nicht einmal ein Hochzeitsfoto. Sie hätten nicht genug Geld für eine Feier gehabt und auch keinen Fotoapparat besessen, behauptete der Vater.
    Doch im Grunde glaubte Tengo ihm nicht. Sein Vater verheimlichte ihm die Wahrheit und hatte seine Geschichte entsprechend zurechtgebogen. In Wirklichkeit war Tengos Mutter gar nicht ein paar Monate nach seiner Geburt gestorben. Seiner Erinnerung nach hatte sie noch gelebt, als er anderthalb Jahre alt war. Und neben dem schlafenden Tengo einen anderen Mann umarmt.
    Seine Mutter zog ihre Bluse aus, streifte den Träger ihres weißen Unterkleids hinunter und ließ den Mann, der nicht sein Vater war, an ihrer Brustwarze saugen. Tengo lag ruhig atmend daneben und schlief. Doch zugleich schlief er auch nicht. Er beobachtete seine Mutter.
    Tengos einziges Erinnerungsfoto von seiner Mutter. Diese Szene, die nur etwa zehn Sekunden andauerte, hatte sich tief in sein Gehirn eingebrannt. Sie war der einzige konkrete Hinweis, den er besaß. Durch dieses Bild war Tengo wie durch eine hypothetische Nabelschnur mit seiner Mutter verbunden. Sein Geist schwebte über dem Fruchtwasser der Erinnerung und lauschte auf ein Echo aus der Vergangenheit. Doch sein Vater hatte nicht die geringste Ahnung von dieser Szene, die sich Tengo so deutlich eingeprägt hatte. Er wusste nicht, dass der Junge diesen Fetzen Erinnerung wiederkäute wie eine Kuh auf der Weide und daraus seine wichtigste Nahrung zog. Jeder der beiden – Vater und Sohn – hütete ein tiefes und düsteres Geheimnis.
    Es war ein angenehmer, sonniger Sonntagmorgen. Doch der kühle Wind kündete davon, dass das Wetter, obschon Mitte April, leicht noch einmal umschlagen konnte. Über seinem dünnen schwarzen Pullover mit rundem Ausschnitt trug Tengo das Fischgrätenjackett, das er seit seiner Schulzeit kaum abgelegt hatte, dazu beigefarbene Chinos und braune Hush Puppies. Die Schuhe waren noch verhältnismäßig neu. Sie waren

Weitere Kostenlose Bücher