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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Aomame, dass er da war . Sie konnte seine Gegenwart spüren. Er war nur zufällig nicht sichtbar, doch bald würde er sich zeigen.
    Seit Aomame sich in dem Apartmenthaus versteckt hielt, hatte sie gelernt, ihr Bewusstsein abzuschalten. Besonders wenn sie wie jetzt auf dem Balkon saß und den Park betrachtete, vermochte sie wie auf Kommando alle Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Ihre Augen waren unermüdlich auf den Park gerichtet. Insbesondere auf die Rutschbahn. Aber sie dachte an gar nichts. Oder nein, vielleicht spielte sich unter der Oberfläche ihres Bewusstseins etwas ab, aber was, wusste sie nicht. Dennoch tauchte es regelmäßig auf, ebenso wie Meeresschildkröten und Delphine von Zeit zu Zeit den Kopf aus dem Wasser stecken, um Atem zu schöpfen. In solchen Momenten war ihr klar, dass sie bis dahin etwas gedacht hatte. Sobald ihr Geist seine Lungen mit frischem Sauerstoff gefüllt hatte, tauchte er wieder ab. Seine Gestalt wurde unsichtbar, und Aomame dachte an nichts mehr. Versunken in die Betrachtung der Rutschbahn wurde sie zu einem Beobachtungsmedium in einem weichen Kokon.
    Sie sah den Park und sah doch nichts. Sobald etwas Neues ihr Blickfeld kreuzte, registrierte ihr Bewusstsein es dennoch sofort. Im Augenblick geschah jedoch gar nichts. Kein Lüftchen regte sich. Die wie Antennen in den Himmel ragenden Äste des Keyaki-Baums rührten sich nicht. Die Welt war wundersam still. Aomame sah auf die Uhr. Es war kurz nach acht. Auch der heutige Tag würde wohl zu Ende gehen, ohne dass sich etwas ereignete. Ruhiger konnte ein Sonntagabend nicht sein.
    Genau um acht Uhr dreiundzwanzig war die Ruhe vorbei.
     
    Unversehens befand sich ein Mann auf der Rutschbahn. Er saß dort und blickte auf eine bestimmte Stelle am Himmel. Abrupt zog Aomames Herz sich auf die Größe einer Kinderfaust zusammen. So lange, dass sie glaubte, es werde nicht mehr anfangen zu schlagen. Dann dehnte es sich plötzlich aus und begann wieder zu arbeiten. Dumpf pochend pumpte es mit wahnsinniger Schnelligkeit neues Blut durch ihren Körper. Auch Aomames Bewusstsein tauchte hastig an die Oberfläche, schüttelte sich kurz und stürzte sich in Aktion.
    Tengo!, dachte sie spontan.
    Aber als sich ihr flirrendes Gesichtsfeld stabilisierte, erkannte sie ihren Irrtum. Der Mann war nicht größer als ein Kind und hatte einen großen, irgendwie eckigen Kopf. Er trug eine enganliegende Strickmütze, die sich dadurch in bizarrer Weise ausbuchtete. Sein dunkelblauer Mantel spannte so sehr über dem Bauch, dass er die Knöpfe zu sprengen drohte. Um den Hals hatte der Mann sich einen viel zu langen grünen Schal gewickelt. Aomame wurde klar, dass er das »Kind« war, das sie am Abend zuvor gerade noch aus dem Park hatte laufen sehen. In Wirklichkeit hatte es sich also nicht um ein Kind, sondern um einen erwachsenen Mann gehandelt. Nur dass er sehr klein und stämmig war und kurze Arme und Beine hatte. Und einen ungewöhnlich großen, unregelmäßig geformten Kopf.
    Aomame fiel ein, wie Tamaru ihr von dem Mann mit dem überdimensionierten Schädel erzählt hatte, der sich in der Nähe der Weidenvilla in Azabu herumtrieb und Erkundigungen über das Frauenhaus einzog. Der Mann auf der Rutschbahn entsprach genau Tamarus Beschreibung. Der zwielichtige Kerl hatte seine Schnüffelei offenbar so hartnäckig fortgesetzt, dass er jetzt direkt vor ihrer Nase gelandet war. Was tun? Sie musste die Pistole holen. Ausgerechnet heute Abend hatte sie sie im Schlafzimmer gelassen. Sie atmete tief durch, um ihren inneren Aufruhr zu beruhigen und ihre Nerven zu besänftigen. Keine Panik. Noch brauchte sie die Waffe nicht zur Hand zu nehmen.
    Aber der Mann sah nicht einmal in die Richtung ihres Hauses. Er saß oben auf der Rutschbahn und starrte in der gleichen Haltung wie zuvor Tengo in den Himmel. Er schien völlig versunken in den Anblick dessen, was er sah. Lange Zeit rührte er sich überhaupt nicht. Als habe er vergessen, wie man sich bewegt. Aomames Wohnung schenkte er nicht die geringste Beachtung. Das verunsicherte sie. Was in aller Welt war hier los? Der Mann – wahrscheinlich ein Mitglied der Sekte – hatte sie aufgespürt. Also musste er ein gerissener und versierter Detektiv sein, andernfalls wäre es ihm nicht gelungen, ihre Spur von der Villa in Azabu bis hierher zu verfolgen. Nichtsdestoweniger saß er jetzt wie auf dem Präsentierteller vor ihr und glotzte ungeschützt und selbstvergessen in den Abendhimmel.
    Aomame erhob sich langsam, öffnete die

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