1Q84: Buch 3
ihre schweren Mäntel auszogen und den Sonnenschein genossen. Aomame verbrachte – unabhängig vom Wetter – den Tag wie üblich bei zugezogenen Vorhängen.
Zu den leisen Klängen Janáčeks absolvierte sie ihre Dehnübungen und trainierte dann ausgiebig an den Geräten. Nachdem sie ihr Pensum täglich gesteigert hatte, brauchte sie nun zwei Stunden dafür. Anschließend machte sie etwas zu essen, reinigte die Wohnung und ließ sich dann auf dem Sofa nieder, um Proust zu lesen. Sie war nun bei dem Band Die Welt der Guermantes angelangt. Aomame versuchte, sich nach Möglichkeit permanent zu beschäftigen. Den Fernsehapparat schaltete sie jedoch nur mittags und abends um sieben zu den NHK -Nachrichten ein. Wie üblich gab es keine großen Neuigkeiten. Oder doch, es gab sie natürlich. Auf der ganzen Welt kamen ständig Menschen auf tragische Weise ums Leben: Züge entgleisten, Fähren sanken, und Flugzeuge stürzten ab. Es gab aussichtslose Unruhen, Kriege, Attentate und ethnische Auseinandersetzungen. Klimaveränderungen riefen Dürren, Flutkatastrophen und Hungersnöte hervor. Aomame hatte großes Mitgefühl für all diese von Leid und Katastrophen heimgesuchten Menschen. Aber nicht eines der Ereignisse hatte unmittelbar etwas mit ihr zu tun.
Im Park auf der anderen Seite der Straße spielten schreiend die Kinder aus der Nachbarschaft. Von den Dächern ertönten die krächzenden Rufe der Krähen. Der typische Stadtgeruch der ersten Wintertage lag in der Luft.
Plötzlich wurde Aomame bewusst, dass sie, seit sie in dieser Wohnung lebte, nicht ein einziges Mal ein sexuelles Bedürfnis verspürt hatte, sich nicht ein einziges Mal vorgestellt hatte, mit jemandem zu schlafen. Wahrscheinlich beruhte das auch auf den Veränderungen ihres Hormonspiegels durch die Schwangerschaft. Jedenfalls war Aomame nicht traurig darüber. In ihrer Situation hätte sie für das Bedürfnis, mit jemandem zu schlafen, ohnehin kein Ventil finden können. Auch dass sie ihre Periode nicht bekam, empfand sie als Erleichterung. Sie hatte zwar nie unter Beschwerden gelitten, dennoch hatte sie das Gefühl, von einer Last befreit zu sein, die sie lange getragen hatte. Von einer Sache, an die sie nun nicht mehr denken musste.
In den vergangenen drei Monaten waren ihre Haare ein ganzes Stück gewachsen. Im September hatten sie ihr nur bis auf die Schultern gereicht, inzwischen fielen sie ihr bis über die Schulterblätter. In ihrer Kindheit hatte die Mutter ihr stets eigenhändig einen Nachttopfschnitt verpasst, und auch später ließ sie sich die Haare nie wachsen, weil sie sie beim Sport gestört hätten. Jetzt kamen sie ihr etwas zu lang vor, aber sie selbst zu schneiden hatte keinen Zweck, und so stutzte sie sich nur ein wenig die Stirnhaare. Tagsüber steckte sie ihr Haar ordentlich auf, abends löste sie es und gönnte ihm hundert Bürstenstriche, während sie Musik hörte. Das war etwas, das man nur tun konnte, wenn man viel Zeit hatte.
Aomame hatte sich nie viel geschminkt, und hier in ihrem Versteck war Make-up noch überflüssiger. Dennoch pflegte sie sich gewissenhaft, auch um eine gewisse Regelmäßigkeit in ihr Leben zu bringen. Sie verwendete eine Waschlotion und eine Creme, die sie in die Haut einmassierte. Vor dem Schlafengehen legte sie stets eine Maske auf. Sie hatte von Natur aus eine gesunde Konstitution, und ihre Haut strahlte, sobald sie sie nur ein wenig pflegte. Vielleicht trug auch ihre Schwangerschaft dazu bei. Aomame hatte gehört, dass Schwangere eine schöne Haut bekamen. Wenn sie mit offenem Haar vor dem Spiegel saß, fand sie, dass sie viel hübscher geworden war. Zumindest strahlte sie die Gelassenheit einer reifen Frau aus. Wahrscheinlich.
Sie hatte sich nie schön gefunden. In ihrer Kindheit hatte sie nie jemand als hübsches, kleines Mädchen bezeichnet. Stattdessen hatte ihre Mutter ihr sogar das Gefühl gegeben, sie sei unansehnlich. »Wenn du nur etwas besser aussehen würdest«, war einer ihrer Lieblingsaussprüche gewesen. Damit meinte sie, dass die Türen sich ihnen leichter geöffnet hätten, wenn Aomame ein hübscheres Kind gewesen wäre. Daher hatte Aomame von klein auf so wenig wie möglich in den Spiegel gesehen und nur so lange, wie es absolut nötig war, um rasch und nüchtern ihr Äußeres zu überprüfen. Diese Gewohnheit hatte sie beibehalten.
Tamaki Otsuka hatte gesagt, ihr gefalle es, wie Aomame aussehe. Ihr Gesicht sei gar nicht so übel, sehr attraktiv. Sie dürfe ruhig etwas mehr
Weitere Kostenlose Bücher