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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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geschlossenen Augen und einem tiefen Seufzer der Erleichterung den Reißverschluss seiner Hose wieder hochzog. Nach seiner Uhr war es acht Uhr und siebzehn Minuten. Demnach hatte Tengo sich ungefähr eine Viertelstunde auf der Rutschbahn aufgehalten. Nachdem Ushikawa sich noch einmal vergewissert hatte, dass nichts mehr von Tengo zu sehen war, erklomm er mit seinen kurzen, krummen Beinen die Stufen der Rutschbahn, setzte sich auf die ausgekühlte Plattform und sah in die Richtung, in die Tengo auch geschaut hatte. Was in aller Welt hatte dieser so eingehend betrachtet?
    Ushikawa hatte recht gute Augen. Wenngleich seine Sehkraft wegen eines Astigmatismus gewissen Einschränkungen unterworfen war, brauchte er im Alltag keine Brille. Doch sosehr er seine Augen auch anstrengte, er konnte keinen Stern entdecken. Stattdessen richtete er seine Aufmerksamkeit auf den zu zwei Dritteln vollen Mond, der in Abständen deutlich zwischen den ziehenden Wolken hervorschaute. Selbst seine dunklen Flecken waren sichtbar. Es war ein gewöhnlicher Wintermond. Kalt, bläulich weiß, voller uralter Geheimnisse und Ahnungen. Starr und stumm stand er am Himmel wie das Auge eines Toten.
    Doch dann stockte Ushikawa der Atem. Einen Moment lang vergaß er, Luft zu holen. Denn als die Wolken sich teilten, bemerkte er nicht weit von dem ihm vertrauten Mond entfernt einen weiteren Mond. Er war etwas kleiner als der alte und grün, wie von Moos überwachsen. Außerdem hatte er eine unregelmäßige Form. Dennoch war es ohne jeden Zweifel ein Mond. Einen so großen Stern gab es nicht. Es war auch kein künstlicher Satellit. Die blieben nicht an einer Stelle stehen.
    Ushikawa schloss für einige Sekunden die Augen. Es musste sich um eine optische Täuschung handeln. Es konnte nicht sein. Doch er konnte blinzeln, sooft er wollte, der kleine, neue Mond blieb. Hin und wieder wurde er von Wolken verdeckt, doch sobald sie weiterzogen, tauchte er an derselben Stelle wieder auf.
    Das ist es also, was Tengo sich angesehen hat, dachte Ushikawa. Tengo Kawana war auf diesen Spielplatz gekommen, um sich dieses Phänomen anzusehen oder um sich zu überzeugen, dass es noch existiert. Er hatte bereits von den zwei Monden gewusst, daran gab es keinen Zweifel, denn er hatte bei ihrem Anblick kein Erstaunen gezeigt. Ushikawa atmete schwer. Was ist das hier für eine Welt?, fragte er sich. Wo bin ich hier hineingeraten? Aber es kam keine Antwort. Der Wind trieb unzählige Wolken vor sich her, und der große und der kleine Mond standen wie ein besonderes Rätsel am Himmel.
    Eines konnte Ushikawa jedoch mit Sicherheit sagen: Dies ist nicht die Welt, in der ich zu Hause bin. Die Erde, die er kannte, hatte nur einen Trabanten. Daran gab es keinen Zweifel. Und hier waren es zwei.
    Wenig später fiel Ushikawa auf, dass der Anblick der beiden Monde ein Gefühl von Déjà-vu in ihm hervorrief. Er kannte dieses Bild von irgendwoher. Er dachte konzentriert nach, versuchte mit aller Kraft, sich zu erinnern. Er verzog das Gesicht, bleckte die Zähne und wühlte mit beiden Händen den Grund der dunklen Gewässer in seinem Bewusstsein auf. Endlich fiel es ihm ein. Die Puppe aus Luft! In dem Roman kamen doch auch zwei Monde vor! Gegen Ende der Geschichte, als das Mädchen sich in Mother und Daughter teilte, wurden aus einem Mond zwei. Fukaeri hatte diese Geschichte geschaffen, und Tengo hatte sie ausgearbeitet und Einzelheiten hinzugefügt.
    Ushikawa blickte sich unwillkürlich um. Doch seinen Augen bot sich ein sehr alltäglicher Anblick. Hinter den weißen Spitzenvorhängen vor den Fenstern des fünfstöckigen Apartmenthauses gegenüber leuchtete friedliches Licht. Es gab nichts Merkwürdiges. Nur die Anzahl der Monde stimmt nicht.
    Vorsichtig stieg er von der Rutschbahn und verließ mit raschen Schritten den Park, wie um den Blicken der Monde zu entfliehen. Ob ich verrückt geworden bin?, fragte sich Ushikawa. Nein, wahrscheinlich nicht. Mit meinem Kopf ist alles in Ordnung. Mein Verstand ist unbeugsam und scharf. Er gleicht einem neuen Eisennagel, ist kalt und gerade, und damit treffe ich präzise und im richtigen Winkel den Kern der Realität. Das Problem liegt nicht bei mir. Ich bin geistig völlig gesund. Nur die Welt um mich herum ist verrückt geworden.
    Ich muss die Ursache dafür finden. Unter allen Umständen.

Kapitel 20
    Aomame
    Teil meiner Verwandlung
    In der Nacht schlug das Wetter um, und der Wind ließ nach. Der Sonntag wurde so warm und heiter, dass die Menschen

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