1Q84: Buch 3
Selbstvertrauen haben. Aomame hörte die herzlichen Worte ihrer Freundin gern. Sie beruhigten Aomame, die gerade in die Pubertät kam, und gaben ihr mehr Selbstsicherheit. Der Gedanke, dass sie womöglich gar nicht so unansehnlich war, wie ihre Mutter immer behauptet hatte, keimte in ihr auf. Aber auch Tamaki Otsuka hatte sie niemals als schön bezeichnet.
Doch nun fand Aomame zum ersten Mal in ihrem Leben, dass ihre Züge eine gewisse Schönheit besaßen. Sie saß nun so lange wie nie zuvor vor dem Spiegel und betrachtete eingehend ihr Gesicht. Dennoch hatte ihr Verhalten nichts Narzisstisches. Wenn sie ihr Gesicht aus verschiedenen Blinkwinkeln inspizierte, war es, als würde sie die Züge eines anderen Menschen betrachten. Sie konnte nicht einschätzen, ob sie wirklich schöner geworden war oder ob es an ihrer Wahrnehmung lag und sie sich gar nicht verändert hatte.
Mitunter verzerrte sie vor dem Spiegel mit aller Kraft ihr Gesicht; dann sah sie aus wie früher. Sie spannte ihre Muskeln an, so fest sie konnte, und ihre Züge zerbarsten auf fast magische Weise in ihre Einzelteile. Alle Gefühle auf der Welt drückten sich nun in ihnen aus. Mit schön oder hässlich hatte das nichts mehr zu tun. Aus einer Perspektive wirkten sie dämonisch, aus einer anderen clownesk, aus einer dritten einfach chaotisch. Sobald sie ihre Gesichtsmuskeln wieder lockerte, glätteten sich ihre Züge wie Wellen auf einer Wasserfläche, und ihr ursprünglicher Ausdruck kehrte zurück. Aomame entdeckte in ihnen ein neues Ich, das sich in so mancher Hinsicht von ihrem früheren unterschied.
Du könntest ruhig ab und zu lächeln, hatte Tamaki Otsuka sie häufig ermahnt. Wenn du lächelst, siehst du so viel sanfter und hübscher aus. Aber es war Aomame nicht gegeben, andere Menschen spontan und zwanglos anzulächeln. Wenn sie es trotzdem versuchte, wirkte es kalt und verkrampft und rief sogar Nervosität und Unbehagen bei ihrem Gegenüber hervor. Tamaki Otsuka hatte ein sehr natürliches, herzliches Lächeln, das sie auf den ersten Blick sympathisch machte. Doch am Ende hatte sie sich aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit das Leben nehmen müssen. Und Aomame, die kein richtiges Lächeln zustande brachte, zurückgelassen.
Es war ein ruhiger Sonntag. Der warme Sonnenschein hatte viele Menschen in den kleinen Park gelockt. Eltern ließen ihre Kleinen im Sandkasten spielen oder setzten sie auf die Schaukeln. Einige Kinder rutschten. Auf den Bänken saßen ältere Leute und sahen den Kindern unaufhörlich beim Spielen zu. Aomame ging auf den Balkon, setzte sich auf den Gartenstuhl und beobachtete die Szene beiläufig durch den Spalt in den Sichtblenden. Ein friedvoller Anblick. Die Welt bewegte sich unverdrossen weiter. Hier trachtete man niemandem nach dem Leben, und niemand versuchte einer Mörderin auf die Spur zu kommen oder hatte eine geladene, in eine Strumpfhose gewickelte Neun-Millimeter-Halbautomatik in der Kommode.
Ob ich eines Tages auch Teil einer so friedlichen, geordneten Welt sein kann?, fragte sich Aomame. Wird der Tag kommen, an dem ich mit dem Kleinen an der Hand in den Park gehen, es auf die Schaukel oder auf die Rutschbahn setze? Werde ich ein alltägliches Leben führen, ohne daran zu denken, jemanden töten zu müssen oder getötet zu werden? Wäre das im Jahr 1Q84 überhaupt möglich? Oder geht das nur in einer anderen Welt? Und – das Wichtigste von allem – wird Tengo an meiner Seite sein?
Aomame wandte ihren Blick vom Park ab und ging in die Wohnung zurück. Sie schloss die Glastür hinter sich und zog die Vorhänge zu. Die Stimmen der Kinder waren nicht mehr zu hören. Still sickerte Traurigkeit in ihr Herz. Sie war von allem isoliert, gefangen an einem Ort, der von innen versperrt war. Sie sollte den Park tagsüber lieber nicht beobachten. Tengo würde ohnehin nur abends kommen. Was er sehen wollte, waren die beiden Monde.
Nachdem sie eine Kleinigkeit zu Abend gegessen und das Geschirr abgewaschen hatte, setzte sich Aomame warm eingepackt auf den Balkon. Die Decke über die Knie gelegt, lehnte sie sich im Gartenstuhl zurück. Es war ein windstiller Abend. Eine Wolke, die das Entzücken eines jeden Aquarellmalers gewesen wäre, schwebte am Himmel. Ein zarter Pinselstrich. Von dieser Wolke unbehindert, sandte der Mond, der zu zwei Dritteln voll war, sein helles Licht zur Erde. Aus Aomames Position war der zweite, kleine Mond um diese Uhrzeit nicht zu sehen. Er stand genau hinter einem Gebäude. Dennoch wusste
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