1Q84: Buch 3
Glastür einen Spalt, schlüpfte in die Wohnung und setzte sich ans Telefon. Sie begann Tamarus Nummer zu wählen. Sie musste ihm unbedingt sagen, dass der Wasserkopf sich in Sichtweite ihrer Wohnung aufhielt. Auf der Rutschbahn des Spielplatzes gegenüber. Alles Übrige würde er entscheiden und für sie erledigen. Aber nachdem sie die ersten vier Zahlen gedrückt hatte, hielt sie inne. Den Hörer krampfhaft umklammert, biss sie sich auf die Lippe.
Es ist noch zu früh, dachte sie. Ich weiß noch zu wenig über diesen Mann. Aber wenn Tamaru ihn als großen Risikofaktor einstuft und sofort beseitigt, bleibt zu vieles im Dunkeln. Eigentlich verhält sich der Mann genau wie Tengo beim letzten Mal. Die gleiche Rutschbahn, die gleiche Haltung, die gleiche Blickrichtung. Aomame war sich sicher, dass der Mann ebenfalls die beiden Monde im Visier hatte. Also bestand vielleicht eine Verbindung zwischen ihm und Tengo. Vermutlich, dachte sie, weiß der Mann noch nicht, dass ich mich hier verstecke. Sonst würde er mir doch nicht so ungeschützt den Rücken zuwenden. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr leuchtet mir diese Vermutung ein. Falls sie zutrifft, könnte der Mann mich zu Tengo führen. Ich brauche ihm nur zu folgen. Bei diesem Gedanken begann ihr Herz noch lauter und schneller zu schlagen. Sie legte den Hörer wieder auf.
Tamaru kann ich auch später noch benachrichtigen, beschloss sie. Zuvor muss ich etwas anderes tun. Natürlich ist es nicht ungefährlich, sich als Verfolgte dem Verfolger an die Fersen zu heften. Zumal, wenn es sich um einen abgebrühten Profi wie ihn handelt. Aber deshalb darf ich mir diese Chance nicht entgehen lassen. Vielleicht ist es meine letzte. Außerdem scheint der Kerl im Moment mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.
Aomame huschte ins Schlafzimmer und nahm die Heckler & Koch aus der Schublade. Als sie sie entsicherte, schob sich mit einem Klacken eine Kugel in die Kammer. Sie sicherte die Waffe wieder und steckte sie hinten in den Bund ihrer Jeans, bevor sie wieder auf den Balkon hinaustrat. Der Wasserkopf starrte noch in der gleichen Haltung zum Himmel. Sein asymmetrischer Schädel rührte sich nicht. Er schien völlig fasziniert von dem, was er sah. Aomame verstand ihn sehr gut. Der Anblick war durchaus faszinierend.
Sie kehrte in die Wohnung zurück und zog ihre Daunenjacke an. Sie setzte eine Baseballmütze und eine ungeschliffene dunkle Brille mit einfachem Gestell auf. Das musste als Verkleidung genügen. Sie wickelte sich noch einen grauen Schal um und steckte ihre Brieftasche und die Wohnungsschlüssel ein. Dann rannte sie die Treppe hinunter und aus dem Gebäude. Die Sohlen ihrer Turnschuhe verursachten keinen Laut auf dem Asphalt. Seine langentbehrte Härte machte ihr Mut.
Während Aomame die Straße entlanglief, vergewisserte sie sich, dass der Mann mit dem großen Kopf noch auf der Rutschbahn saß. Nach Sonnenuntergang war die Temperatur gefallen, aber es wehte noch immer kein Wind. Sie empfand die Kälte sogar als angenehm. Weißen Atem aushauchend, schritt sie lautlos und unauffällig am Park vorbei. Der Mann schenkte ihr nicht die geringste Beachtung und starrte weiter zum Himmel. Aus ihrer Position konnte sie die Monde nicht sehen, aber er schaute genau in deren Richtung. Er sah sie: den großen und den kleinen Mond am wolkenlosen, eisigen Himmel.
Aomame ging am Park vorbei bis zur nächsten Ecke. Dort machte sie kehrt und ging so weit zurück, dass sie in der Dunkelheit verborgen auf den Mann warten konnte. In ihrem Rücken spürte sie die kleine Pistole, sie war kalt und hart wie der Tod selbst, aber sie beruhigte Aomames angespannte Nerven.
Etwa fünf Minuten später erhob sich der Wasserkopf, klopfte sich den Staub vom Mantel und kletterte nach einem letzten Blick zum Himmel entschlossen die Leiter der Rutschbahn hinunter. Er verließ den Park in Richtung Bahnhof. Ihm zu folgen war nicht sonderlich schwer. An Sonntagabenden war in dem Wohngebiet kaum jemand unterwegs, und sie brauchte nicht zu befürchten, dass sie ihn aus den Augen verlieren würde, selbst wenn sie einen größeren Abstand einhielt. Außerdem hegte er offensichtlich nicht den leisesten Verdacht, dass ihm jemand folgen könnte. Er schritt zügig aus und bewegte sich, ohne sich umzudrehen, in der Geschwindigkeit eines Menschen vorwärts, der tief in Gedanken versunken ist. Aomame fand, dass die Situation einer gewissen Ironie nicht entbehrte. Ein Verfolger kommt nie auf die Idee,
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