1Q84: Buch 3
ihm die Situation zu erklären, die es abbildete. Nicht, als er noch lebte, und auch jetzt nicht, wo er gestorben war. Hier, guck mal, ein Foto. Kannst du haben. Denk, was du willst. Vielleicht war es das, was sein Vater ihm sagen wollte.
Tengo lag auf der bloßen Matratze und starrte an die Decke. Eine weißgestrichene Sperrholzdecke. Sie war glatt und ohne Holzstruktur oder Astlöcher, nur einige gerade Fugen verliefen auf ihr. Das Gleiche hatte sein Vater in den letzten Monaten seines Lebens aus seinen tief in die Höhlen gesunkenen Augen gesehen. Oder wahrscheinlich hatte er gar nichts mehr gesehen. Jedenfalls war das seine Blickrichtung gewesen, ob er nun etwas wahrgenommen hatte oder nicht.
Tengo schloss die Augen und versuchte sich vorzustellen, dass er selbst langsam dem Tod entgegenging. Aber für einen dreißigjährigen Mann ohne gesundheitliche Probleme liegt die Vorstellung, dass er sterben könnte, sehr weit entfernt. Ruhig atmend beobachtete er, wie die Schatten der Dämmerung über die Wände zogen. Er wollte nicht mehr denken, was ihm auch nicht sonderlich schwerfiel. Er war zu erschöpft. Er hätte gern etwas geschlafen, aber er konnte nicht, was vielleicht daran lag, dass er zu müde war.
Kurz vor sechs kam Schwester Omura und sagte, das Essen in der Cafeteria sei fertig. Tengo verspürte nicht den geringsten Appetit. Aber die hochgewachsene, vollbusige Krankenschwester ließ diesen Einwand nicht gelten. Eine Kleinigkeit würde schon genügen, sagte sie, er müsse zumindest etwas in den Magen bekommen. Es klang fast wie ein Befehl. Schließlich war es ihr Beruf, anderen einleuchtende Anweisungen zu erteilen, die dem Erhalt ihrer Körperfunktionen dienten. Und Tengo war nicht der Typ, der einleuchtenden Befehlen – besonders wenn sie von älteren Frauen erteilt wurden – viel Widerstand entgegensetzen konnte.
Als sie die Treppe hinunter zur Cafeteria gingen, trafen sie Kumi Adachi. Tengo setzte sich mit ihr und Schwester Omura an einen Tisch. Schwester Tamura war nicht dabei. Er aß einen Salat, ein wenig von einem Gemüseeintopf und eine Misosuppe mit Miesmuscheln und Frühlingszwiebeln. Dazu trank er heißen Hojicha.
»Wann ist denn die Einäscherung?«, fragte Kumi Adachi.
»Sie ist morgen Mittag um eins«, sagte Tengo. »Danach fahre ich wahrscheinlich gleich wieder nach Tokio zurück. Ich muss arbeiten.«
»Kommt außer dir noch jemand?«
»Nein, ich glaube nicht. Ich werde wohl der Einzige sein.«
»Ich könnte dich begleiten«, sagte Kumi Adachi.
»Zur Einäscherung meines Vaters?«, fragte Tengo erstaunt.
»Ja. Ehrlich gesagt mochte ich deinen Vater ziemlich gern.«
Tengo legte unwillkürlich seine Stäbchen ab und sah Kumi Adachi ins Gesicht. Sprach sie wirklich von seinem Vater? »Was mochtest du denn zum Beispiel an ihm?«, fragte er.
»Er war aufrichtig und redete nie ein Wort zu viel«, sagte sie. »Darin war er meinem verstorbenen Vater ähnlich.«
»Aha«, sagte Tengo.
»Mein Vater war Fischer. Er ist nicht mal fünfzig geworden.«
»Ist er auf See umgekommen?«
»Nein. Er hatte Lungenkrebs. Er hat zu viel geraucht. Fischer sind unheimlich starke Raucher, warum das so ist, weiß ich nicht. Aber sie qualmen wie die Schlote.«
Tengo dachte darüber nach. »Vielleicht hätte mein Vater auch lieber Fischer werden sollen.«
»Wie kommst du denn auf so was?«
»Tja, ich weiß nicht«, sagte Tengo. »War nur so eine Idee. Vielleicht wäre das besser gewesen, als Gebührenkassierer bei NHK zu sein.«
»Hättest du ihn als Fischer besser akzeptieren können?«
»Zumindest wäre vieles einfacher gewesen, glaube ich.«
Tengo stellte sich vor, wie er als Kind an jedem schulfreien Tag von morgens an mit seinem Vater aufs Meer hinausgefahren wäre. Die steife Brise und die Gischt des Pazifiks auf seinem Gesicht. Das monotone Tuckern des Dieselmotors. Der modrige Geruch der Netze. Die schwere, gefährliche Arbeit. Der kleinste Fehler konnte das Leben kosten. Das war bestimmt ein natürlicheres und erfüllteres Leben, als halb Ichikawa abzuklappern, um Gebühren für NHK einzusammeln.
»Aber Kassierer bei NHK ist doch bestimmt ein anstrengender Beruf«, sagte Schwester Omura, während sie einen Happen von ihrem in Sojasoße gesimmerten Fisch verzehrte.
»Wahrscheinlich«, sagte Tengo. Jedenfalls kein Beruf, den er hätte ertragen können.
»Aber dein Vater war sehr erfolgreich darin, nicht wahr?«, sagte Kumi Adachi.
»Ja, ziemlich«, sagte Tengo.
»Er war so
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