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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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sich seit dem Vorabend nicht gerührt und nur darauf gewartet, dass Ushikawa zur Rutschbahn zurückkehrte. Sie hatten gewusst, dass er kommen würde. Das Schweigen, das sie um sich verbreiteten, floss über vor Andeutungen. Und die Monde verlangten von Ushikawa, dass er dieses Schweigen teilte. Niemandem dürfe er etwas erzählen, mahnten sie ihn und legten sacht die mit Asche bestäubten Zeigefinger auf die Lippen.
    Während Ushikawa auf der Rutsche saß, verzog er seine Gesichtsmuskeln systematisch nach allen Seiten, um zu prüfen, ob sich etwas unnatürlich oder anders anfühlte. Aber nichts wies auf die Möglichkeit einer Sinnestäuschung hin. Sein Gesicht fühlte sich an wie immer – im Guten wie im Schlechten.
    Ushikawa hatte sich stets für einen realistischen Menschen gehalten, und das war er auch. Metaphysische Spekulationen gehörten nicht zu seinen Vorlieben. Wenn ein Phänomen nun offensichtlich existierte – ob es nun vernünftige Gründe dafür gab oder nicht, ob es den Gesetzen der Logik entsprach oder nicht –, blieb eigentlich nichts anderes übrig, als dessen Realität anzuerkennen. Auf dieser Voraussetzung basierte Ushikawas ganzes Denken. Realität entstand nicht durch Prinzipien und Logik, sondern die Realität war zuerst da, und erst im Zusammenhang mit ihr ergaben sich die Prinzipien und die Logik. Also beschloss er, dass er vorläufig keine andere Wahl hatte, als zu akzeptieren, dass es auf einmal zwei Monde gab.
    Über die möglichen Konsequenzen konnte er später noch in Ruhe nachdenken. Entschlossen, sich keinerlei überflüssigen Spekulationen hinzugeben, betrachtete Ushikawa die beiden Monde so unvoreingenommen wie möglich. Den großen gelben und den kleinen grünen. Er wollte sich mit ihrem Anblick vertraut machen. Die werden jetzt so akzeptiert, befahl er sich. Es gab keine adäquate Erklärung, aber das war im Augenblick auch nicht die Frage. Wie gehe ich mit dieser Situation um? So lautete die Frage. Und dazu musste er das Phänomen zuerst einmal akzeptieren. Dann konnte man weitersehen.
    Ushikawa blieb etwa fünfzehn Minuten lang auf der Rutschbahn sitzen, nahezu reglos gegen das Geländer gelehnt. Wie ein Taucher, der sich langsam an die Veränderung des Wasserdrucks gewöhnt, badete er im Licht der beiden Monde und ließ es in seine Haut eindringen. Sein Instinkt sagte ihm, das sei wichtig.
    Dann erhob sich der kleine Mann mit dem schiefen Kopf, kletterte von der Rutschbahn und kehrte, in kaum zu beschreibende Gedanken versunken, in das alte Mietshaus zurück. Dabei erschien ihm alles Mögliche an der Umgebung ganz anders als auf dem Hinweg. Er wusste, dass das am Licht der Monde lag. Es verschob nach und nach die Sicht auf die Dinge. Deshalb verpasste Ushikawa auch mehrmals eine Abzweigung. Bevor er das Haus betrat, warf er einen Blick nach oben zum zweiten Stock, um zu sehen, ob in Tengos Wohnung Licht brannte. Nein, der große junge Mann war noch nicht wieder zu Hause. Also konnte er zum Essen nicht einfach nur in ein nahegelegenes Lokal gegangen sein. Ob er sich mit jemandem getroffen hatte? Vielleicht sogar mit Aomame? Oder Fukaeri? Hatte Ushikawa womöglich eine einmalige Gelegenheit verpasst? Aber Grübeln half jetzt auch nicht mehr. Es war zu gefährlich, Tengo jedes Mal, wenn er ausging, zu beschatten. Er brauchte seinen Verfolger nur einmal zu sehen, und alles wäre umsonst gewesen.
    Ushikawa ging in seine Wohnung und zog Mantel, Schal und Mütze aus. In der Küche öffnete er eine Dose Corned Beef, belegte ein Brötchen damit und verspeiste es im Stehen. Dazu trank er einen lauwarmen Dosenkaffee. Beides schmeckte nach nichts. Es hatte Konsistenz, aber keinen Geschmack. Ushikawa konnte nicht beurteilen, ob es an den Lebensmitteln lag oder an seinem Gaumen. Vielleicht lag es ja auch am Licht der beiden Monde, das sich in sein Inneres gestohlen hatte. Von irgendwoher ertönte das leise Läuten einer Türglocke. Kurz darauf wurde ein zweites Mal geklingelt. Doch Ushikawa scherte sich nicht darum. Es läutete ja nicht bei ihm, sondern irgendwo weiter weg, in einem anderen Stockwerk.
    Als er mit Brötchen und Kaffee fertig war, rauchte Ushikawa langsam eine Zigarette, um seine Gedanken wieder mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Im Geist unterstrich er noch einmal, was er zu tun hatte. Schließlich setzte er sich hinter die Kamera am Fenster. Er schaltete den Elektroheizer ein und wärmte sich die Füße in seinem orangen Licht. Es war Sonntagabend, kurz vor neun,

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