1Q84: Buch 3
worden, also zwischen 1954 und 1955. Er sah auf der Rückseite des Fotos nach, aber weder Ort noch Datum waren vermerkt.
Tengo betrachtete die Frau, die seine Mutter sein musste, sehr eingehend. Ihr Gesicht war klein und wirkte ein wenig abwesend. Mit einem Vergrößerungsglas konnte man es sicher genauer sehen, aber er hatte natürlich keins zur Hand. Dennoch konnte er ihre Züge gut erkennen. Das Gesicht war oval, sie hatte eine kleine Nase und volle Lippen. Man konnte sie nicht direkt eine Schönheit nennen, doch ihre Züge waren hübsch und sympathisch. Zumindest wirkten sie neben der groben Physiognomie seines Vaters viel vornehmer und intelligenter, wie Tengo beglückt bemerkte. Ihr Haar war adrett aufgesteckt, und auf ihrem Gesicht lag dieser Ausdruck, als sei sie geblendet. Vielleicht war sie auch nur aufgeregt, weil sie fotografiert wurde. Der Kimono verbarg ihre Figur.
Rein äußerlich betrachtet wirkten die beiden kaum wie ein harmonisches Paar. Auch der Altersunterschied war offensichtlich. Tengo versuchte sich vorzustellen, wie die beiden sich kennengelernt und verliebt hatten, um schließlich zu heiraten und einen kleinen Jungen zu bekommen, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Das Foto strahlte nichts von alledem aus. Wahrscheinlich waren die beiden nur umständehalber und nicht aus gegenseitiger Zuneigung Mann und Frau geworden. Sicher war ihre Ehe durch eine irrationale Verkettung banaler Ereignisse zustande gekommen. Wie das Leben nun mal so spielt.
Als Nächstes beschäftigte Tengo sich mit der Frage, ob seine Mutter auf dem Foto mit jener rätselhaften Frau aus seinem Tagtraum identisch war – beziehungsweise aus der Kindheitserinnerung, die ihn bisweilen panikartig überfiel. Aber er konnte sich das Gesicht der Frau nicht vor Augen rufen. Sie hatte ihre Bluse ausgezogen, der Träger ihres Unterkleids war ihr von der Schulter geglitten, und ein fremder Mann saugte an ihrer Brustwarze. Dabei keuchte sie so stark, als leide sie unter Atemnot. Das war alles, woran er sich erinnerte. Ein fremder Mann saugte an der Brustwarze seiner Mutter und beraubte Tengo damit seines alleinigen Rechts auf diese Brustwarze. Für ein Baby musste so etwas die schlimmste Bedrohung bedeuten. Bis zum Gesicht war sein Blick gar nicht gelangt.
Tengo schob das Foto in den Umschlag zurück und überlegte, was es bedeuten mochte. Sein Vater hatte es bis zu seinem Tod sorgfältig aufbewahrt. Das hieß vermutlich, dass er Tengos Mutter geliebt hatte. Als Tengo anfing, die Welt bewusst wahrzunehmen, war seine Mutter schon an einer Krankheit gestorben. Den Aussagen des Anwalts zufolge war Tengo das einzige Kind seiner verstorbenen Mutter und des Gebührenkassierers Kawana. So die im Familienbuch aufgeführten Fakten. Aber dieses amtliche Dokument war keine Garantie dafür, dass dieser Mann auch wirklich Tengos biologischer Vater war.
»Ich habe keinen Sohn«, hatte sein Vater gesagt, ehe er ins Koma fiel.
»Ja, aber was bin ich dann?«, hatte Tengo gefragt.
»Sie sind nichts«, hatte sein Vater knapp und ohne Umstände geantwortet.
Anfangs hatte sein Ton Tengo davon überzeugt, dass in seinen Adern nicht das Blut dieses Mannes floss. Und er hatte sich endlich von einer schweren Fessel befreit geglaubt. Doch mit der Zeit hatte seine Überzeugung nachgelassen, dass das, was sein Vater gesagt hatte, etwas mit der Realität zu tun hatte.
»Ich bin nichts.« Tengo sprach die Worte aus, um zu hören, wie sie klangen.
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass die junge Frau auf dem Foto eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner älteren Freundin hatte. Kyoko Yasuda war ihr Name. Um sich zu beruhigen, presste sich Tengo kurz die Fingerkuppen auf die Stirn. Dann nahm er das Foto noch einmal aus dem Umschlag und betrachtete es. Die kleine Nase und die vollen Lippen. Das Kinn stand etwas vor. Weil die Frisur so anders war, hatte er es nicht gemerkt, aber die Ähnlichkeit mit Kyoko Yasuda war eindeutig. Doch was hatte das zu bedeuten?
Und was hatte sein Vater sich dabei gedacht, ihm dieses Foto erst nach seinem Tod zukommen zu lassen? Zu seinen Lebzeiten hatte er Tengo nicht die geringste Auskunft über seine Mutter gegeben. Sogar die Existenz eines Familienfotos hatte er geleugnet. Und nun zuallerletzt hinterließ er Tengo, ohne eine Erklärung, dieses unscharfe alte Foto. Wozu? Um seinem Sohn zu helfen, oder um ihn in noch tiefere Verwirrung zu stürzen?
Eines wusste Tengo jedoch: Sein Vater hatte nicht die geringste Absicht gehabt,
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