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1Q84: Buch 3

1Q84: Buch 3

Titel: 1Q84: Buch 3 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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wie sie brauchten. Außerdem kannten sie keine Müdigkeit.
    Von bläulich weißem Mondlicht übergossen, lag Ushikawa auf dem Tisch. Sein Mund stand weit offen, und die Augen, die sich nicht schließen wollten, waren noch mit dem Tuch bedeckt. Das Letzte, was sie gesehen hatten, waren das Fertighaus in Chuorinkan und der kleine Hund gewesen, der auf dem winzigen Rasen im Garten herumtollte.
    Und nun verwandelte sich ein Teil seiner Seele in eine Puppe aus Luft.

Kapitel 29
    Aomame
    Ich lasse deine Hand nie mehr los
    »Tengo, mach die Augen auf«, flüsterte Aomame. Tengo gehorchte. Die Zeit setzte sich wieder in Bewegung.
    »Die Monde sind da«, sagte Aomame.
    Tengo hob den Kopf und blickte zum Himmel. Die Wolkendecke war aufgerissen, und die Monde schienen auf die kahlen Äste des Keyaki-Baums. Der große und der kleine Mond. Der große gelbe und der kleine grüne. Mother und Daughter. Ihr Licht tränkte den Rand einer vorüberziehenden Wolke. Als habe jemand einen langen Rocksaum versehentlich durch Farbe geschleift.
    Dann schaute Tengo Aomame an, die neben ihm saß. Sie war nicht mehr das dünne zehnjährige Mädchen, das abgelegte Kleider auftrug, die ihm nicht passten, und das von seiner Mutter mit einem lieblosen Topfschnitt verunstaltet worden war. Sie hatte kaum noch Ähnlichkeit mit dem Kind, das immer ausgesehen hatte, als bekomme es nicht genug zu essen. Dennoch erkannte er auf den ersten Blick, dass es Aomame war. Es konnte niemand anders sein als sie. Der Ausdruck in ihren Augen hatte sich auch in zwanzig Jahren nicht verändert. Sie waren stark und unendlich klar und tief. Und diese Augen wussten, wonach sie sich sehnten. Nichts und niemand würde sie daran hindern zu sehen, was sie sehen wollten. Diese Augen blickten nun geradewegs bis auf den Grund seiner Seele.
    Er hatte keine Ahnung, wie und wo Aomame die letzten zwanzig Jahre verbracht hatte. Sie war in dieser Zeit zu einer schönen Frau herangewachsen. Innerhalb eines Augenblicks und ohne jeden Vorbehalt nahm Tengo ihre Zeit und ihren Raum in sich auf. Sie gingen ihm in Fleisch und Blut über – wurden seine Zeit und sein Raum.
    Ich muss etwas sagen, dachte Tengo, aber ihm fehlten die Worte. Er bewegte leicht die Lippen und suchte in der Luft nach etwas Geeignetem, fand jedoch nichts. Nichts, außer den weißen Atemwolken, die an schwimmende, einsame Inseln denken ließen, kam über seine Lippen. Aomame sah ihm in die Augen und schüttelte leicht den Kopf. Tengo verstand, was es bedeutete: Du brauchst nichts zu sagen. Sie drückte Tengos Hand in seiner Tasche. Sie ließ sie keine Sekunde los.
    »Wir sehen das Gleiche«, sagte Aomame mit ruhiger Stimme und hielt Tengos Blick fest. Es war eine Frage und auch wieder keine. Sie wusste es längst und wollte nur eine förmliche Bestätigung.
    »Es gibt zwei Monde«, sagte Aomame.
    Tengo nickte. Es gab zwei Monde. Tengo sprach es nicht aus. Aus irgendeinem Grund wollte ihm seine Stimme nicht gehorchen. Also dachte er es nur.
    Aomame schloss die Augen, beugte sich nach vorn und legte ihre Wange an Tengos Brust. Presste ihr Ohr an sein Herz, um seinen Gedanken zu lauschen. »Das wollte ich wissen«, sagte Aomame. »Dass wir auf derselben Welt sind und dieselben Dinge sehen.«
    Unversehens war der große Strudel in Tengo verschwunden. Nur noch der ruhige Winterabend umgab ihn. Das Licht in einigen Fenstern des Apartmenthauses auf der anderen Straßenseite bewies, dass sie nicht die einzigen Menschen auf der Welt waren. Das fanden die beiden sehr verwunderlich. Mehr noch, sie empfanden es sogar als unlogisch, dass es außer ihnen beiden noch andere Leute auf der Welt gab, die ein eigenes Leben führten.
    Tengo beugte sich ein wenig vor und atmete den Duft von Aomames Haar. Wie geschmeidig und schön es war. Dazwischen schaute wie ein scheues Tier ein kleines rosa Ohr hervor.
    »Es war eine lange Zeit«, sagte Aomame.
    Ja, sehr lang, dachte Tengo. Doch zugleich erkannte er, dass diese zwanzig Jahre schon jetzt keine Substanz mehr besaßen. Vielmehr waren sie innerhalb eines Augenblicks Vergangenheit geworden und konnten deshalb auch in einem Augenblick aufgefüllt werden.
    Tengo zog die Hand aus der Tasche und legte Aomame den Arm um die Schultern. Er spürte die Festigkeit ihres Körpers. Abermals schaute er hinauf zu den Monden, die noch immer ihr seltsam gefärbtes Licht durch die langsam am Himmel ziehenden Wolken auf die Erde warfen. In diesem Licht erkannte Tengo einmal mehr, wie sehr die Regungen des

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