1Q84: Buch 3
Aomame beobachtet haben?, wollte der Vorgesetzte wissen.
»Nein, das wohl nicht«, sagte der Kahle. »Hätte er sie ausfindig gemacht, dann hätte er uns sofort benachrichtigt. Denn damit wäre sein Auftrag erfüllt gewesen. Ich vermute eher, dass er dort jemanden beobachtet hat, der ihn zu ihr führen oder vielleicht zu ihr führen würde. Einen anderen Zusammenhang kann ich mir nicht denken.«
Und während er diesen Jemand beobachtete, ist er selbst bemerkt worden.
»Wahrscheinlich«, sagte der Kahle. »Er war allein und ist in eine gefährliche Sache hineingeraten. Vielleicht hat er wichtige Beweise entdeckt, und das ist ihm nicht gut bekommen. Hätte er die Observierung in einem Team durchgeführt, dann hätte er Rückendeckung gehabt, und so etwas wäre nicht passiert.«
Du hast mit diesem Mann telefoniert. Glaubst du, es besteht Aussicht, dass wir uns mit Aomame treffen können?
»Das kann ich nicht vorhersagen. Aber wenn Aomame von sich aus nicht mit uns verhandeln will, können wir es wohl vergessen. Das habe ich aus den Andeutungen dieses Anrufers herausgehört. Das heißt, letztlich hängt alles davon ab, wie sie gestimmt ist.«
Man möchte meinen, sie müsste froh sein, dass wir die Sache mit dem Leader nicht krumm nehmen und sogar ihre Sicherheit garantieren.
»Trotzdem hat der Mann genauere Informationen verlangt. Warum wir Aomame treffen wollen. Warum wir Frieden mit ihnen schließen wollen. Und worüber wir konkret verhandeln wollen.«
Dass sie Informationen verlangen, heißt nichts anderes, als dass sie selbst nichts wissen.
»Genau. Andererseits wissen wir auch nichts über sie. Warum haben sie einen so raffinierten Plan ausgeheckt und sich solche Mühe gegeben, den Leader zu töten?«
Wie dem auch sei – während wir auf Antwort warten, müssen wir die Suche nach Aomame fortsetzen. Auch wenn wir damit jemandem auf den Schwanz treten.
Der Kahle zögerte einen Moment. »Wir sind straff und engmaschig organisiert. Wir haben genügend Leute und können effektiv und schnell handeln. Wir sind zielbewusst, haben eine hohe Moral und sind bereit, uns notfalls selbst zu opfern. Rein technisch gesehen sind wir nicht mehr als ein zusammengewürfelter Haufen von Amateuren. Wir haben keinerlei Spezialausbildung. Im Gegensatz zu uns sind die anderen absolute Profis. Sie verfügen über das notwendige Know-how, handeln kaltblütig und ohne zu zögern. Erfahrung scheinen sie auch zu haben. Wie Sie wissen, war Herr Ushikawa selbst nicht gerade ein Trottel.«
Wie gedenkt ihr die Suche nach Aomame fortzusetzen?
»Am erfolgversprechendsten scheint mir, die Spur weiterzuverfolgen, die Herr Ushikawa gefunden hat. Was immer es ist.«
Das heißt, wir haben keine eigenen Hinweise?
»So ist es«, gab der Kahle zu.
Ganz gleich, wie gefährlich es ist und welche Opfer es kostet, wir müssen diese Frau namens Aomame finden und in unsere Gewalt bringen . So schnell wie möglich.
»Das ist ein Auftrag der Stimmen, nicht wahr?«, erwiderte der Kahle. »Aomame in unsere Gewalt zu bringen , ganz gleich unter welchen Opfern und so schnell wie möglich.«
Sein Vorgesetzter antwortete nicht darauf. Mitglieder auf der Ebene des Kahlen erhielten keine weitergehenden Informationen. Er gehörte nicht zur Führungsriege, sondern war der Chef des Sicherheitsdienstes und damit nur ein ausführendes Organ. Aber der Kahle wusste Bescheid. Dies war die letzte Offenbarung, die sie gewährt hatten, und vielleicht die letzte »Stimme«, die die Priesterinnen gehört hatten.
Als der Kahle in dem ausgekühlten Raum vor Ushikawas Leiche auf und ab ging, flirrte ihm plötzlich etwas durch den Kopf. Er blieb wie angewurzelt stehen, zog die Brauen zusammen und versuchte dieses Etwas zu fassen zu kriegen. Als er stehenblieb, veränderte der Pferdeschwanz an der Tür ein wenig seine Haltung. Er atmete aus und verlagerte sein Gewicht ganz leicht von einem Bein auf das andere.
Koenji, dachte der Kahle. Wieder runzelte er die Stirn und grub auf dem dunklen Grund seines Gedächtnisses. Langsam und vorsichtig begann er einen dünnen Faden einzuholen. Irgendjemand, der mit dieser Sache etwas zu tun hatte, wohnte doch in Koenji. Wer war das nur?
Er zog ein dickes, ziemlich ramponiertes Notizbuch aus der Tasche und blätterte hastig darin. Sein Gedächtnis hatte ihn nicht getrogen. Tengo Kawana. Er wohnte tatsächlich in Koenji, im Bezirk Suginami, die gleiche Adresse wie die des Mietshauses, in dem Ushikawa gestorben war. Dasselbe Haus,
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