1Q84: Buch 3
kündigte sich wieder ein schöner Sonnenuntergang an.
Es war Tengo ein Rätsel, wieso dieser Angestellte von NHK so gut über ihn »Bescheid wusste«. Das letzte Mal, dass ein Gebührenkassierer bei ihm geklingelt hatte, war vor etwa einem Jahr gewesen. Damals hatte er die Tür geöffnet und dem Mann höflich mitgeteilt, dass er keinen Fernsehapparat besitze und demzufolge niemals fernsah. Seine Erklärung hatte den Kassierer nicht überzeugt, aber er hatte nur ein wenig gemurrt und war schließlich ohne ein weiteres Wort abgezogen.
Ob es derselbe Mann gewesen war? Tengo konnte sich erinnern, dass auch damals das Wort »Diebstahl« gefallen war. Aber es war doch sonderbar, dass derselbe Mann nach einem Jahr wiederkam und auch noch gut über ihn »Bescheid wusste«, wo er doch nur zwischen Tür und Angel mit ihm geredet hatte, und auch das nicht länger als fünf Minuten.
Egal, dachte Tengo. Wenigstens hatte Fukaeri nicht aufgemacht. Wahrscheinlich würde der Kerl nicht mehr kommen. Diese Leute hatten eine gewisse Norm zu erfüllen, und Streitigkeiten mit Zahlungsunwilligen ermüdeten sie. Deshalb mieden sie lästige Adressen, um nicht unnütz Kräfte zu vergeuden, und sammelten die Rundfunkgebühren lieber dort ein, wo es leichter war.
Tengo sah wieder auf das Bett. Er musste an die zahllosen Schuhe denken, die sein Vater in all den Jahren auf seinen täglichen Runden als Kassierer durchgelaufen hatte. Er hatte stets das gleiche billige Modell getragen, schwarz, mit flachen Absätzen, und jedes Paar, bis es völlig abgewetzt, zerschlissen und heruntergetreten war. Als Halbwüchsigen hatte Tengo der Anblick der malträtierten Schuhe immer geschmerzt. Doch nicht sein Vater hatte ihm leidgetan, sondern die Schuhe, die ihn an geschundene, bis an den Rand des Todes ausgebeutete Lasttiere erinnerten, hatten sein Mitleid erweckt.
Aber war nicht, wenn er es recht bedachte, sein Vater jetzt auch eine solche sterbende Kreatur? War er denn etwas anderes als ein Paar abgetragene Schuhe?
Wieder sah Tengo aus dem Fenster und beobachtete die allmählich am westlichen Horizont untergehende Sonne. Er dachte an das schwache blauweiße Leuchten der Puppe aus Luft und an die in ihr ruhende, kindliche Aomame.
Ob die Puppe aus Luft noch einmal erscheinen würde?
Hatte die Zeit wirklich die Form einer Linie?
»Anscheinend stecke ich fest«, sagte Tengo zu den Wänden. »Es gibt zu viele Variablen. Zu viele, als dass ein ehemaliges Wunderkind sie beantworten könnte.«
Natürlich gaben die Wände keine Antwort. Sie reflektierten nur stumm die Farben des Sonnenuntergangs.
Kapitel 4
Ushikawa
Ockhams Rasiermesser
Ushikawa konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die alte Dame in der Villa in Azabu etwas mit dem Attentat auf den Leader zu tun hatte. Also zog er Erkundigungen über sie ein. Da sie eine bekannte Persönlichkeit von hohem gesellschaftlichem Ansehen war, nahm dies nicht viel Zeit in Anspruch. Ihr Mann hatte nach dem Krieg eine bedeutende Rolle in der Wirtschaft gespielt und auch über einen gewissen politischen Einfluss verfügt. Im Mittelpunkt seines Unternehmens standen Investitionen und Immobilien, aber er hatte seine Geschäfte auf eng mit dieser Branche verbundene Bereiche wie Einzelhandel und Transportwesen ausgedehnt. Nachdem er Mitte der 1950er Jahre gestorben war, hatte seine Frau das Unternehmen weitergeführt, wofür sie sich als sehr begabt erwies. Vor allem besaß sie die segensreiche Fähigkeit, Krisen vorauszusehen. Ende der 1960er Jahre wurde ihr die Leitung der Firmen zu viel, sie verkaufte systematisch und mit hohem Gewinn verschiedene Anteile. So verkleinerte sie nach und nach ihr Unternehmen und konzentrierte sich auf einige verbleibende Zweige. Auf diese Weise überstand sie die bald folgende Ölkrise relativ unbeschadet und konnte viel Kapital anhäufen. Sie verstand es, das, was für andere eine Krise war, zu ihrem Vorteil zu wandeln.
Inzwischen war sie Mitte siebzig und hatte sich aus den Geschäften zurückgezogen. Sie besaß ein gewaltiges Vermögen und führte ein unbehelligtes und sorgloses Dasein in ihrer Villa. Warum sollte eine Frau aus wohlhabendem Haus, die einen schwerreichen Mann geheiratet hatte und nach seinem Tod noch wohlhabender geworden war, einen Mord in Auftrag geben?
Dennoch verstärkte Ushikawa seine Nachforschungen über die alte Dame. Erstens hatte er noch eine andere Spur entdeckt, und zweitens gab ihm das Frauenhaus zu denken, das sie unterhielt. Eigentlich war
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