1Q84: Buch 3
seit dem Abend zuvor erlebt hatte. Natürlich war das nichts Besonderes. Er war mit dem Bus in den Ort zurückgefahren, hatte ein leichtes Abendessen zu sich genommen und ein Bier getrunken, war in die Pension gegangen und hatte gelesen. Um zehn hatte er sich schlafen gelegt. Früh am nächsten Morgen war er aufgestanden, hatte einen Spaziergang durch den Ort unternommen, gegessen und etwa zwei Stunden geschrieben. Obwohl sich der Ablauf jeden Tag wiederholte, erstattete Tengo seinem bewusstlosen Vater stets genau Bericht über seine Aktivitäten. Natürlich zeigte dieser keine Reaktion. Tengo hätte genauso gut mit einer Wand reden können. Das Ganze war nicht mehr als ein Ritual. Doch auch einfache Wiederholungen sind oftmals von nicht geringer Bedeutung.
Später las Tengo seinem Vater aus einem mitgebrachten Buch vor. Dazu suchte er nichts Bestimmtes aus, sondern nahm eines, das er selbst gerade las. Es hätte auch die Gebrauchsanweisung für einen elektrischen Rasenmäher sein können. Tengo las die Sätze mit möglichst klarer, gut hörbarer Stimme vor. Das war der Punkt, auf den er besonders achtete.
»Die Blitze wurden allmählich stärker, und ihr bläuliches Licht zuckte in immer kürzeren Abständen grell auf, aber es war kein Donner zu hören. Oder vielleicht donnerte es, und ich bildete mir nur ein, es nicht zu hören, weil meine Sinne betäubt waren. Das Regenwasser strömte in Furchen dahin. Darüber hinwegschreitend betrat ein Gast nach dem anderen das Lokal.
Weil der Freund, mit dem ich gekommen war, nur in die Gesichter der Leute sah, überlegte ich, was los sei, sagte aber schon seit einiger Zeit nichts mehr. Überall wurde geredet, auf den Plätzen neben mir und auch gegenüber drängten sich die Gäste, dass man kaum atmen konnte.
Jemand hustete oder hatte sich verschluckt, jedenfalls klang es seltsam, wie das Bellen eines Hundes. Plötzlich beleuchtete ein ungeheurer Blitz mit seinem blauen Schein das Innere des Raumes und die auf dem Lehmboden hockenden Gestalten. Als ich erschrocken aufsprang, weil ein krachender Donnerschlag folgte, der das Dach zu spalten schien, wandten sich die Gäste, die den Boden bevölkerten, alle auf einmal in meine Richtung, und ich wurde gewahr, dass sie die Gesichter von Hunden oder Füchsen hatten, wenn auch all diese Tiere Kleidung trugen. Einige von ihnen leckten sich mit langen Zungen das Maul.« *
Tengo schaute seinem Vater ins Gesicht. »Ende«, sagte er, denn hier endete die Geschichte.
Keine Reaktion.
»Fällt dir dazu irgendetwas ein?«
Natürlich keine Antwort.
Mitunter las Tengo ihm auch vor, was er am Morgen geschrieben hatte. Danach ging er mit dem Kugelschreiber in der Hand einen beliebigen Abschnitt durch und las die überarbeitete Passage anschließend noch einmal vor. Überzeugte sie ihn nicht, nahm er sie sich ein weiteres Mal vor, um sie schließlich noch einmal vorzulesen.
»So hört es sich besser an«, sagte er dann, wie nach Zustimmung heischend, zu seinem Vater, der natürlich keine Meinung dazu äußerte, ob der Abschnitt wirklich so besser war oder doch vorher oder ob die Veränderungen eigentlich gar keinen Unterschied machten. Der Vater hielt seine eingefallenen Lider stets fest geschlossen, sodass sie an die heruntergelassenen Rollläden eines von Unheil und Verhängnis heimgesuchten Hauses erinnerten.
Hin und wieder stand Tengo auf, streckte sich ausgiebig und trat ans Fenster, um die Aussicht zu betrachten. Es war schon seit einigen Tagen bewölkt, manchmal regnete es auch. Der Regen, der auch an diesem windstillen Nachmittag unablässig in geraden Fäden vom Himmel fiel, drang schwer und dunkel in das Kiefernwäldchen ein. Scharen schwarzer Vögel hatten sich darin formiert. Auch die Vögel waren dunkel durchtränkt. Selbst ins Innere des Krankenzimmers drang die Feuchtigkeit ein. Kissen, Bücher, der Tisch – alles schien sich damit vollzusaugen. Doch ungeachtet des Wetters, der Nässe, des Windes und der Wellen verharrte Tengos Vater in seinem Koma. Die Ohnmacht hüllte seinen Körper ein wie ein barmherziges Kleid. Nach einer kurzen Pause las Tengo weiter. Mehr gab es in dem kleinen, feuchten Raum für ihn nicht zu tun.
Wenn er doch einmal aufhörte, saß er nur schweigend da und beobachtete die schlafende Gestalt seines Vaters. Stellte Vermutungen an, was in dessen Gehirn vorgehen mochte. Welcher Art war das Bewusstsein, das sein alter, sturer, ambossharter Schädel barg? Oder war dort gar nichts mehr
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